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In der Türkei sind seit dem Putschversuch vom 15. Juli Tausende Firmen von Gülen-Anhängern enteignet, verstaatlicht oder verkauft worden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP füllen sich so die Kassen.

Istanbul - Es ist noch nicht lange her, da wurden die Gebrüder Boydak in der Türkei als Vorbilder umjubelt. Als „anatolische Tiger“ feierte das Land die fromme Familie aus dem zentralanatolischen Kayseri, die aus ihrer Möbelschreinerei einen Konzern mit zwei Milliarden Euro Umsatz machte; als „muslimische Calvinisten“ wurden sie wegen ihres Fleißes und ihrer Frömmigkeit auch international bekannt. Doch als gebrochene Männer standen sie jetzt in Handschellen am Sarg ihrer Mutter. Schockiert sah die Trauergemeinde vor der Moschee in Kayseri zu, wie die führenden Kaufleute ihrer Stadt nach dem Totengebet wieder in den Gefangenentransport verladen wurden. Die Mutter hatte einen Herzinfarkt erlitten, als ihre Söhne wegen angeblicher Sympathien für den Prediger Fethullah Gülen abgeholt wurden. Und den milliardenschweren Konzern hat sich der Staat gegriffen – eine von Tausenden Enteignungen, die auf eine riesige Vermögensumverteilung in der Türkei hinauslaufen.

Der verkauf hats schon begonnen

Rund 300 Unternehmen hat die türkische Bankenaufsichtsbehörde übernommen, seit die Regierung am 1. September per Notstandsrecht eine entsprechende Anordnung erließ. Das Dekret sieht vor, dass die Behörde die Unternehmen von mutmaßlichen Gülen-Unterstützern nach Gutdünken verkaufen oder liquidieren kann. Der Verkauf hat auch schon begonnen, denn Rechtsmittel dagegen gibt es wegen des Ausnahmezustands nicht. Der Erlös fließt in die Staatskasse. Nur wenn der enteignete Unternehmer später einmal seine Unschuld beweisen kann, soll er daran beteiligt werden, doch damit ist angesichts des bisherigen Vorgehens der Justiz kaum zu rechnen. Dafür dürften sich nun Freunde der Regierungspartei AKP auf gute Schnäppchen und Sonderkonditionen beim Kauf traditionsreicher Firmen freuen können, argwöhnen Enteignungsopfer.

Auf mindestens zwölf Milliarden Euro wird der Wert der Unternehmen geschätzt, die der Bankenaufsicht bisher überschrieben wurden. Erst am Wochenende kamen die 43 Firmen der Kaynak-Gruppe dazu, deren Interessen von Druck und Papier bis zu Transport und Tourismus reichen.

4482 Firmen und Institutionen sind schon verstaatlicht worden

Doch das ist längst nicht alles, was der Staat sich unter den Nagel gerissen hat. 4482 Firmen und Institutionen sind seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli verstaatlicht worden, sagte Finanzminister Naci Agbal jetzt der regierungsnahen Zeitung „Sabah“, darunter 35 Krankenhäuser und Kliniken, 2380 Privatschulen und 709 Nachhilfeschulen, 1156 Vereinsheime, 15 Universitäten, 31 Gewerkschaftssitze, 64 Sender und 92 Zeitungen. Die 3361 Gebäude und Grundstücke dieser Einrichtungen wurden dem Staat überschrieben. Auch Bargeld und Wertpapiere im Wert von fast 150 Millionen Euro hat der Staat demnach von mutmaßlichen Gülen-Sympathisanten beschlagnahmt.

„Damit wird dem Volk zurück gegeben, was dem Volk genommen worden ist“, sagte Finanzminister Agbal. Die Gülen-Anhänger hätten ihren Reichtum nicht ehrlich erwirtschaftet, sondern „den guten Willen“ der Türkei „missbraucht“, begründete er die Enteignungen. Die Rechtfertigung erinnert fatal an frühere Umverteilungen in der Türkei. Denn die massenhafte Enteignung von Gülen-Anhängern ist nicht die erste solche Aktion in der türkischen Geschichte – erstmals trifft es aber eine muslimische Bevölkerungsgruppe.

Politische Macht setzt wirtschaftliches Vermögen voraus

Eine der größten Umverteilung von Vermögen in der neueren Geschichte war die Enteignung der Armenier von Anatolien im untergehenden osmanischen Reich. Vorwand für die Enteignungen und Deportationen war damals der Vorwurf, armenische Rebellen hätten an der Ostfront die Russen unterstützt. Planmäßig und organisiert wurde 1915 armenisches Vermögen vom Staat eingezogen und teils an muslimische Unternehmer vergeben, um die Volkswirtschaft zu „türkifizieren“, teils vom Staat genutzt, und teils in der Bevölkerung verteilt, um deren Zustimmung und Mitwirkung zu sichern. Der Griff nach dem Vermögen der Armenier war nach Einschätzung des Historikers Mehmet Polatel und anderer Experten ein wesentliches Motiv für die Deportationen von 1915. Auf dem enteigneten Vermögen der Armenier wurde die Volkswirtschaft der Türkischen Republik aufgebaut, die wenige Jahre nach dem Völkermord gegründet wurde.

Politische Macht setzt wirtschaftliches Vermögen voraus. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Finanzminister Agbal im selben Interview mit „Sabah“ von den Kosten für die Volksabstimmung sprach, mit der die Regierung im Frühjahr die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch ein Präsidialsystem absegnen lassen will. Die Staatskasse werde dafür ein Sonderbudget bereitstellen, kündigte Agbal an.

Erdogan und seine AKP wollen ein Präsidialsystem schaffen

Eine „Neue Türkei“ wollen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP mit der Einführung des Präsidialsystems schaffen, mit dem die politische Macht auf seine Person und Partei konzentriert werden sollen. Doch die dafür nötige Wirtschaftsmacht lag bisher in Händen von Erdogans einstigem Weggefährten und jetzigem Widersacher Fethullah Gülen. Dass es bei den massenhaften Enteignungen in der Türkei vor allem um diesen Machtkampf geht, dafür spricht die Tatsache, dass der Zugriff auf den Boydak-Konzern wie auf die Kaynak-Gruppe und andere hochkarätige Unternehmen schon im vergangenen Herbst begann, also lange vor dem Putschversuch vom 15. Juli.