Ein Videomediziner (Mitte), eine Krankenpflegekraft und ein Mitarbeiter der Anstalt (rechts) in der Rolle des Häftlings simulieren eine Behandlungssituation in der Justizvollzugsanstalt Stammheim. Foto: dpa

Häftlinge, die in baden-württembergischen Gefängnissen erkranken, werden zunächst ins virtuelle Sprechzimmer gebeten, sofern kein Anstaltsarzt in der Nähe ist. Justizminister Guido Wolf hat in Stammheim ein bundesweit einzigartiges Projekt vorgestellt.

Stuttgart - „Bundesweit einmalig“ sei das Pilotprojekt in fünf baden-württembergischen Gefängnissen, schwärmt Justizminister Guido Wolf (CDU), als er am Montag die Telemedizin in der Justizvollzugsanstalt Stammheim vorstellt. Das Modell dürfte sich bald zum Exportschlager entwickeln: Abhängig von den Ergebnissen im Südwesten erwägt auch NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) bereits Online-Sprechstunden für Häftlinge – und weitere Bundesländer könnten folgen.

Projekt mit 470 000 Euro veranschlagt

Die Telemedizin soll die medizinische Versorgung vor allem in den Abend- und Nachtstunden sowie an Wochenenden verbessern. Wegen der Suchtprobleme oder Suizidgefahren der Häftlinge seien die Beschwerdebilder oft unklar. Bisher muss, wenn ein Insasse in Randzeiten erkrankt, meist der Vollzugsbedienstete entscheiden, ob er einen Notarzt holt oder einen Transport in die Klinik organisiert – was personalaufwendig ist und das Fluchtrisiko vergrößert. In Verbindung mit dem schon 2017 eingeführten Videodolmetscher lassen sich viele Schwierigkeiten gleichzeitig angehen – auch sprachliche Probleme, da fast jeder zweite Häftling ein Ausländer ist.

Die ersten Erfahrungen, so Wolf, fielen „nach einhelliger Meinung zur Zufriedenheit aller aus“: Seit Juni habe es bereits mehr als 100 Behandlungsfälle gegeben – rechnerisch 3,25 pro Tag. Lediglich in weniger als acht Prozent der Fälle sei noch eine „Ausführung“ zu einem externen Arzt erforderlich gewesen. Eine 57 000 Euro teure wissenschaftliche Begleitstudie soll nun für Gewissheit sorgen, ob das mit gut 410 000 Euro veranschlagte halbjährige Pilotprojekt ein Gewinn ist.

Allein bei den Justizvollzugsbediensteten, so hat es der Minister errechnen lassen, seien pro Jahr 31 Vollzeitstellen nötig, um die medizinische Versorgung von 7579 Insassen im Land (Stand 31. Juli) zu gewährleisten. Ein langfristiger Einspareffekt durch die Telemedizin lasse sich seriös aber nicht abschätzen. Wolf bleibt an der Stelle allerdings auch vorsichtig, weil auf diesem Weg die Lücken bei den Anstaltsärzten gefüllt werden könnten. Zehn bis 15 offene Stellen soll es in dem Bereich geben, weil sich einfach keine Nachfolger mehr finden – zu unattraktiv sind demnach die Aufgaben.

30 Kräfte stehen bisher zur Verfügung

Martin Scherer vom Hamburger Telemedizin-Dienstleister A+Videoclinic will so nah wie möglich an den „Goldstandard“ – das direkte Arzt-Patienten-Gespräch – herankommen. Dazu hat die Firma Honorarverträge mit 30 Allgemeinmedizinern und Psychiatern aus dem Südwesten geschlossen, die nach einem Dienstplan rund um die Uhr zur Verfügung stehen – teilweise aus ihrer Praxis, teilweise von zu Hause aus. Vergütet werden sie pauschal für Bereitschaftsdienste, Sprechstunden und Anrufe. Wie viele Ärzte nach einer Ausweitung auf alle Anstalten des Landes benötigt werden, ist offen. Zunächst sollen diese 30 Kräfte ausgelastet werden, „sonst verlieren sie die Lust“, sagt Scherer. Den Angaben zufolge gibt es bisher wenige Telemedizin-Anbieter in Deutschland. Die Anfang 2018 gegründete Firma A+Videoclinic konzentriert sich als einzige auf öffentliche Einrichtungen, etwa auch die Polizei.

Landesärztekammer treibt Telemedizin voran

Der Präsident der Landesärztekammer, Ulrich Clever, betonte, dass die Videomediziner alle berufsrechtlichen Anforderungen – wie Qualität, Patientengeheimnisschutz oder Facharztausbildung – erfüllen müssten. Das Justizverwaltung habe die Einhaltung sämtlicher Kriterien „akribisch nachgewiesen“. Er wies auch darauf hin, dass in Baden-Württemberg zunächst das „Fernbehandlungsverbot“ beseitigt werden musste, das bis dahin für die Versorgung eines dem Arzt noch unbekannten Patienten galt. Dieser Schritt steht auch den Ärzteschaften in anderen Ländern bevor, wenn sie ihrerseits das Neuland betreten wollen – „das Projekt ist nachahmenswert“, sagt Clever. Der Deutsche Ärztetag hat prinzipiell schon grünes Licht gegeben: Mitte Mai wurde in Erfurt eine entsprechende neue Regelung in der Musterberufsordnung der Ärzte beschlossen.

Der Insasse muss der Videobehandlung „wie üblich“ zustimmen. Verweigert er sein Einverständnis, so heißt es, müssten weiterhin der Krankenpflegedienst oder der Vollzugsbedienstete eine Entscheidung darüber treffen, ob ein Notarzt kommen soll.