Ungewohnte Perspektive: Der Stuttgarter Kapitän Atakan Karazor (li.) muss sich die Partie gegen St. Pauli bis zu seiner späten Einwechslung von der Bank aus anschauen. Foto: IMAGO/Sportfoto Rudel

Beim 2:0-Sieg über den FC St. Pauli ist Atakan Karazor erstmals seit langer Zeit nur Reservist. Für ihn spielt der junge Chema. Ein Wachwechsel?

Es lief bereits die 90. Spielminute, als der Kapitän des VfB als Einwechselspieler erstmals den Rasen der mit 60 000 Fans ausverkauften MHP-Arena betrat. Die Heimpartie gegen den FC St. Pauli war zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden – und es galt nur noch, Zeit von der Uhr zu nehmen. Der engagiert aufspielende Pokalsieger, der seinen Anhängern einen vergnüglichen Bundesliga-Fußballabend in einer lauen Spätsommernacht beschert hatte, führte zu diesem Zeitpunkt nach Toren von Ermedin Demirovic (43.) und Neuzugang Bilal El Khannouss (50.) bereits klar mit 2:0.

 

Atakan Karazor, der Dauerläufer und Anführer im defensiven Mittelfeld, der in der vergangenen Saison auf 46 Einsätze gekommen war, spielte diesmal also erstmals seit langer Zeit nur eine Nebenrolle. Das schmerzte den Spielführer, der seit 2019 beim VfB ist – und somit zu den dienstältesten Profis im Stuttgarter Kader zählt.

Doch der Trainer Sebastian Hoeneß hatte nach dem enttäuschenden Saisoneinstieg mit dem Negativ-Höhepunkt durch das 1:3 beim SC Freiburg, wo Karazor genauso wie sein Nebenmann Angelo Stiller ein schwaches Spiel absolviert hatte, mit seiner Aufstellung ein Zeichen setzen wollen. Schließlich sollte ein Ruck durch das VfB-Team gehen, das zuvor zu viel Selbstzufriedenheit und zu wenig Laufbereitschaft gezeigt hatte.

Das klappte letztlich auch. Gegen St. Pauli machten die Stuttgarter Profis 181 Sprints – mehr als in jedem anderen Spiel der noch jungen Saison. Zudem liefen sie fünf Kilometer mehr als zuletzt beim SC Freiburg. Zum Leidwesen von Karazor, der bereits in der Vorsaison in einigen Partien nicht an die Leistungen der Vizemeister-Runde heran gekommen war – und der diesmal keine Wiedergutmachung betreiben konnte. „Wir wollten frische Impulse geben – und die haben wir auch bekommen“, erklärte der Trainer Sebastian Hoeneß seine Rochade auf der Sechser-Position, also quasi dem Maschinenraum des VfB-Spiels.

Der Spanier Chema spielt im Mittelfeld unerschrocken auf wie ein alter Hase. Foto: Pressefoto Baumann/Volker Müller

Schließlich hatte Hoeneß ja eine passable Alternative in der Hinterhand. Der junge Spanier Chema, Neuzugang von Real Madrid, nahm den Platz von Platzhirsch Karazor in der Startelf gleich sehr selbstbewusst ein. „Chema ist in einer guten Verfassung“, sagte Hoeneß, dessen personeller Schachzug sich wie die Hineinnahme der Neuzugänge Lorenz Assignon und Tiago Tomas sowie die erneute Aufstellung von Bilal El Khannouss auszahlen sollte.

Wie ein alter Hase dirigierte der ballsichere und umsichtige 20-Jährige schnell die Nebenleute, spielte mit viel Übersicht und Passsicherheit. So antizipiert Chema, der für die Profis der Königlichen dreimal in Teileinsätzen aufgelaufen war, schnell die jeweilige Situation – und scheint schon zu wissen, wo er hinspielen wird, ehe er den Ball überhaupt angenommen hat. Dass der VfB gegen die Paulianer ohne Gegentor blieb, war auch sein Verdienst.

Und Karazor, den diesmal Ermedin Demirovic als Spielführer ersetzte? „Ata hat das sehr gut aufgenommen, es war eine Top-Reaktion von vorne bis hinten. Er hat sich astrein verhalten“, sagte der VfB-Trainer Hoeneß: „Er war einer derjenigen, die die Mannschaft von der Bank aus nach vorne gepusht haben.“

Zu früh wäre es, gleich von einem Wachwechsel von Karazor zu Chema zu sprechen. „Ata war bei der sportlichen Aufwärtsentwicklung der Mannschaft in den letzten zwei Jahren einer der wesentlichen Taktgeber. Es gibt keinerlei grundsätzlichen Zweifel an seinen Qualitäten“, sagte der VfB-Sportvorstand Fabian Wohlgemuth über den 28-Jährigen: „Die gesamte Mannschaft hatte in den letzten Wochen und Monaten einige Themen – und das schließt Ata mit ein. Er bleibt einer der Schlüsselspieler in unserer Mannschaft.“

Doch klar ist nach dem Erfolg über den FC St. Pauli auch: Mit dem unerschrockenen Chema besitzt der VfB anders als in der Vorsaison eine starke Alternative im defensiven Mittelfeld. Das betrifft perspektivisch auch den lange Zeit unantastbaren Angelo Stiller, der in der 25. Minute einen an Tiago Tomas verursachten Foulelfmeter verschoss, sich dann aber steigerte.

„Wir kommen in eine Phase, in der wir sehr viel spielen. Da wird es grundsätzlich sehr wichtig sein, dass wir den Kader, den wir haben, auch in seiner Breite einsetzen“, sagte Chefcoach Hoeneß, der die Personalie Karazor nicht überbewerten wollte. Auch vor dem Hintergrund, dass er mit seinem Team an diesem Donnerstag (21 Uhr) in der Europa League zum Auftakt der Ligaphase das spanische Team von Celta Vigo empfängt.

Für Atakan Katazor könnte das wieder mehr Einsatzzeit bedeuten. Alternativlos ist seine Rückkehr in die Startelf aber nicht.