Seit fast einem Jahr finden Geisterspiele statt – mit erheblichen Auswirkungen auch auf den Betrieb rund um die VfB-Arena. Welche das sind? Wir haben mit einigen Betroffenen gesprochen.
Stuttgart - Wenn der VfB Stuttgart an diesem Samstag um 15.30 Uhr Hertha BSC empfängt, wird das Szenario rund um die Mercedes-Benz-Arena dasselbe sein wie in den Monaten zuvor. Die Anfahrtswege leer, die Parkplätze verwaist, Kioske und Bierbuden verschlossen. Ein Stillleben. Die 250 Personen im und ums Stadion, die während des „Sonderspielbetriebs Fußball Bundesliga“ noch zulässig sind, könnten sich per Handschlag begrüßen. Wenn sie denn dürften.
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Die Vor-Corona-Zeit im Fußball, sie endete vor beinahe einem Jahr. Am 9. März 2020 empfing der VfB in der zweiten Liga Arminia Bielefeld. Das Spiel vor 54 302 Zuschauern endete 1:1. Es war das letzte Mal, dass ein Ligaspiel in Deutschland vor vollen Rängen ausgetragen wurde. Danach war Schluss. Viel ist seither die Rede von den Nöten und Zwängen der Proficlubs, von Kurzarbeit, Bürgschaften, Krediten und drohenden Insolvenzen, welche die lange Serie von Geisterspielen hervorrufen könnte. Dem VfB drohen bis Saisonende allein 30 Millionen Euro entgangene Zuschauereinnahmen. Ein kürzlich bewilligter KfW-Kredit von bis zu 25 Millionen soll die verlustreiche Zeit überbrücken helfen. Zahlreiche Mitarbeiter auf der Geschäftsstelle befinden sich weiter in Kurzarbeit.
2200 Mitarbeiter bei Heimspielen – normalerweise
Doch welche Einbußen treffen eigentlich all die indirekt vom Profizirkus abhängigen Beschäftigten: All die Bierverkäufer, Ordner, Reinigungskräfte? Wie stark leiden sie unter der Pandemie?
Hierzu ein paar Zahlen. Als Corona noch eine Biermarke und Pandemie ein Fall für Günther Jauch war, lag die Zahl der Beschäftigten während eines Heimspiels des VfB Stuttgart bei etwa 2200. Darunter circa 1200 Caterer und 800 Ordner. Der Rest Sanitäter, Reinigungskräfte, Volunteers und Balljungen. Aktuell listet der VfB auf: 57 Ordner, drei Caterer, sieben Sanitäter, acht Reinigungskräfte und vier Balljungen.
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Über Nacht wurde deutschlandweit Zehntausenden von ihnen die Beschäftigungsgrundlage entzogen. Betroffen sind in erster Linie die Gastronomie und der Sicherheitsbereich. Der weit überwiegende Teil an Ordnern, Würstchenbratern und Bierverkäufern verdient sich als Minijobber auf 450-Euro-Basis alle zwei Wochen ein Zubrot. Darunter viele Studenten, Rentner, Arbeitslose. Nach Schätzungen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) wirft ein Spieltag für eine einfache Servicekraft an einem der zahlreichen Kioske 75 Euro ab. Dieser Zuverdienst entfällt seit einem Jahr völlig. Geister trinken schließlich kein Bier.
Kompensationsleistungen gibt es keine, weder vom VfB Stuttgart als Veranstalter noch vom Vertragscaterer Aramark. Auch staatliche Hilfen wie Kurzarbeitergeld kann von keinem geringfügig Beschäftigten in Anspruch genommen werden. Fragen zur aktuellen Situation im Geisterspielbetrieb der Fußball-Bundesliga möchte Aramark nicht beantworten. Die Gewerkschaft NGG spricht von einer „extrem schwierigen Situation“, erinnert aber daran, dass die Fußball-Bundesliga nur einen kleinen Ausschnitt im darniederliegenden Gastronomie- und Veranstaltungsgewerbe widerspiegele.
Unter den Geisterspielen leiden viele
Ohne Fans nix los. Das mag schlimm sein für die vielen Beschäftigten, aber genauso für die Unternehmen. Sie alle werden durch den Lockdown gebeutelt. Erste Sicherheitsfirmen stehen vor der Insolvenz, da bekanntlich auch Weihnachtsmärkte und Kirmes kein Geld mehr einspielen.
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Und wie steht es um die volkswirtschaftliche Bedeutung von König Fußball? DFB-Präsident Fritz Keller strich zu Beginn der Pandemie die Leistungen eines Wirtschaftszweigs hervor, der „250 000 Vollzeitkräfte in Lohn und Brot setzt“. Der Fußball sei, so Keller, „ein wichtiger Wirtschaftszweig, den es zu erhalten gilt“.
Direkt bei den Proficlubs der ersten und zweiten Liga sowie ihren Tochterunternehmen sind nach Angaben der Deutschen Fußball-Liga aber lediglich circa 22 000 Menschen beschäftigt. 56 000 gelten darüber hinaus „als direkt oder indirekt rund um die Bundesliga und zweite Liga“ beschäftigt, überwiegend besagte Putz-, Service- und Sicherheitskräfte. Kellers Zahl von 250 000 bezog sich auf den gesamten deutschen Fußball mit seinen über sieben Millionen Mitgliedern. Da sich die vielen Teilzeit- und Nebenjobs nicht in Vollzeitstellen umrechnen lassen, fällt es schwer, die volkswirtschaftliche Bedeutung des Profifußballs zu erfassen. Klar ist: Unter den Geisterspielen leiden viele – nicht nur die Fans.
Wir haben mit drei weiteren Betroffenen gesprochen.
Das Catering – im Minimal-Betrieb
Anastasia Gigi-Müller hat es vergleichsweise gut erwischt. Die 62-Jährige ist eine von rund 800 Servicekräften aus dem Cateringbereich von Aramark, die vor der Pandemie an Heimspieltagen im Einsatz waren. Würstchen braten, Bier zapfen, Tabletts durch den VIP-Bereich jonglieren. Die meisten von ihnen geringfügig Beschäftigte, Minijobber, Studenten, die sich mit dem Fußball das Gehalt aufbessern und bei denen nun unter Nebeneinkünfte die Null steht.
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Gigi-Müller fällt als Angestellte des VfB-Caterers Aramark dank Kurzarbeit nicht so tief. Sie kann weiter zu den Spielen, da sie zum Kreis derer gehört, die noch im VIP-Bereich gebraucht werden: für die Verköstigung der Spieler. „Es ist nicht viel, was wir zu tun haben, aber immerhin ein bisschen was“, sagt die Frau aus Weil im Schönbuch. Wo normalerweise bis zu 4000 Gäste verköstigt werden, geht es in der riesigen Arena jetzt eher seelenlos zu, bedauert die Serviceleiterin. Wobei das mit dem Spielercatering durchaus spannend sein kann. Ansonsten legt VfB-Fan Gigi-Müller Wert darauf, den Kontakt zu ihren Mitarbeitern zu halten. „Wir fiebern alle dem Tag entgegen, wenn es endlich wieder rundgeht.“
Der Sicherheitsdienst – Leben vom Ersparten
Von 780 auf 60 lautet die Rechnung der Firma SDS, die rund um die VfB-Heimspiele für den Ordnungsdienst zuständig ist. 60 Ordner müssen aktuell reichen, ein Bruchteil des früheren Personals. Mit beträchtlichen Folgen – für das Unternehmen wie für die Mitarbeiter. „Uns fehlen pro Monat 500 000 bis 600 000 Euro Umsatz“, klagt Geschäftsführer Ralf Schindler, der bei VfB-Spielen normalerweise die Einsätze koordiniert. In den Umsatzausfall eingerechnet sind sämtliche Veranstaltungen, die der Coronakrise zum Opfer gefallen sind. Mit zwei Millionen Euro Jahresumsatz zählt der VfB zu den größten Kunden. Die meisten freiberuflichen Mitarbeiter des Ordnungsdienstes, laut Schindler „vom Arbeitslosen bis zum Professor“, sind auf 450-Euro-Basis angestellt. Einige haben aus der Not heraus das Weite gesucht und füllen stattdessen im Discounter Regale auf. Verständlich, aus Sicht des 55-Jährigen. „Die Leute brauchen das Geld.“ Auch das Unternehmen selbst steckt in schweren Nöten – wie die gesamte Branche. „Wir leben vom Ersparten“, klagt Schindler, der bisher vergeblich auf staatliche Unterstützung gewartet hat. „Wir sind durch jedes Raster gefallen.“
Die freiwilligen Helfer – Live-Erlebnis vor dem TV
Daniela Schmid hat das letzte reguläre VfB-Spiel mit Zuschauern gegen Arminia Bielefeld noch miterlebt. Die Antwort auf die Frage nach dem, was fehlt, kommt so scharf wie eine Flanke von Borna Sosa. „Die Stimmung, die Leute, das Event, der Ausgleich vom Alltag.“ Bevor das Virus die Welt terrorisierte, war die Stuttgarterin eine von 80 Volunteers, also Freiwilligen, die im Stadion einfachen, aber notwendigen Tätigkeiten nachgehen. Den Leuten den Platz weisen, Journalisten die Aufstellung verteilen, die Mittelkreisplane aufs Feld tragen oder umgefallene Werbebanden wieder aufstellen. Ein Spaßjob für die 29-jährige Kauffrau, schließlich gibt’s den Haupttribünensitzplatz, was zu essen und trinken sowie Einblicke in die Welt der Profis obendrauf. „Im Lauf der Zeit haben die Heimspiele meinen Terminkalender bestimmt. Schließlich besteht zu den anderen Helfern auch eine Verbundenheit“, erzählt Daniela Schmid. Seit vergangenem März war der Fußballfan nun nicht mehr im Stadion. Ohne Brimborium braucht es schließlich auch keine Helferlein. Was bleibt, ist der Fernseher und das sehnsuchtsvolle Gefühl nach Stimmung, Spaß und Spiel.