Der VfB (Martin Harnik) und die große Leere von Leverkusen. Foto: Baumann

Das 3:4 in Leverkusen spiegelt das ganze Dilemma des VfB Stuttgart wider: Die Offensive ist an guten Tagen unwiderstehlich, das Defensivverhalten bleibt erschreckend naiv.

Leverkusen - Nach dem Spiel begegneten sich Leverkusens Sportchef Rudi Völler und VfB-Trainer Alexander Zorniger in den Katakomben der Bay-Arena. Der eine war euphorisch ob des Last-minute-Sieges, der andere regelrecht niedergeschlagen. „Glaubt weiter an euch“, riet Völler seinem Gegenüber, „ändert nichts, geht euren Weg weiter.“

Bitte, das hatte der VfB schon in den 90 Minuten zuvor getan – aber anders, als es der roten Delegation aus Stuttgart lieb und dem schwindsüchtigen Punktekonto dienlich war. Die Offensive hatte, wie es ihr immer wieder mal gelingt, ihr Potenzial ausgespielt und so viele Tore erzielt, wie zum Sieg locker reichen müssten. Doch die Defensive hatte, fast schon chronisch, so viele Gegentreffer zugelassen, wie die Abteilung Attacke gar nicht schießen kann. Ein Missverhältnis, das in 30 Minuten den Spielverlauf der ersten 60 Minuten auf den Kopf stellte. Typisch VfB.

Und bevor einer die Frage nach dem System von Trainer Alexander Zorniger stellt, haben die Spieler die Antwort vorweggenommen. Manche von ihnen funktionieren in keinem System der Welt, wie die vergangenen Jahre (unter verschiedenen Trainern) schmerzlich gezeigt haben. Das Dilemma des VfB ist grundsätzlich und betrifft die mangelnde Qualität mancher Spieler, die sich gegen schwächere Gegner schon mal übertünchen lässt – aber nicht gegen einen Hurrikan, wie ihn der Gegner mit der Einwechslung von Karim Bellarabi auslöste: Bayer zerlegte den VfB regelrecht. Das lässt sich auch mit dem Ausfall etlicher versierter Stammkräfte nicht schlüssig erklären. Denn auch mit Spielern wie Christian Gentner und Serey Dié verliert der VfB regelmäßig seine Spiele, sogar gegen deutlich schwächere Gegner. Zurück blieb in Leverkusen ein Trainer, der gar nicht mehr so missionarisch wie bisher sein Credo vom unwiderstehlichen Spiel mit Pressing und Gegenpressing hochhielt. „Wenn wir zwölf oder 14 Punkte hätten, würde ich sagen: Lerneffekt. Aber wir haben keine Zeit zum Lernen. Wir müssen Punkte holen“, sagte Alexander Zorniger fast schon kleinlaut.

Viel Euphorie, aber keine Absicherung nach hinten

Mit dem 3:1 im Rücken stürmte der VfB weiter, hatte Chancen für ein viertes Tor – und machte es nicht. So groß waren Euphorie und Wagemut, dass die Mannschaft die Absicherung nach hinten völlig aus den Augen verlor. „Ich würde gerne beim Stand von 3:1 in die Köpfe der Spieler schauen können“, sagte Zorniger. Um zu sehen, warum die Warnlampen nicht aufleuchten, wenn das Spiel zu kippen beginnt. Wobei es die eine und einzige Erklärung gar nicht gibt.

Es ist eine Mischung aus vielen Schwächen und Nachlässigkeiten. Das beginnt beim Trainer, geht über die Mannschaft und führt zum Kader. Augenscheinlich hat Alexander Zorniger noch immer nicht genügend Sicherungen ins Offensivdenken der Mannschaft eingezogen – gegen die Wucht und das Tempo der Bayer-Vorstöße war der VfB jedenfalls heillos überfordert. Auf Spieler mit ausgeprägtem Gespür für die Situation und den Rhythmuswechsel des Gegners zu hoffen scheint vergebens. „Diese Korrektive waren verletzt oder gesperrt“, sagte Sportvorstand Robin Dutt. Allerdings: Selbst in Topbesetzung vermag der VfB viel zu selten darauf angemessen zu reagieren.

Letztendlich führt das stets zum zentralen Punkt: der Qualität des Kaders. Nirgendwo steht geschrieben, dass sich der VfB durch eine einfache Spielverlagerung übertölpeln lassen oder die letzten beiden Gegentore in Überzahl kassieren muss, das letzte sogar durch einen Konter in vorletzter Minute! Dennoch passiert es immer wieder. Und dann die Abwehr! Mit Verlaub: Jeder wusste vor der Saison, dass die Viererkette dringend Verstärkung benötigt. Ohne Antonio Rüdiger ist sie noch schwächer als zuvor, siehe die 23 Gegentore in zehn Spielen. Die Realität heißt Florian Klein, der gegen Bellarabi kein Land sah und sich durch eine plumpe Körpertäuschung verladen ließ. Oder Toni Sunjic, der generell als Sicherheitsrisiko gelten darf.

So zeichnet sich wieder eine Zittersaison ab, womöglich bis zum letzten Spiel. Wann die Mannschaft das Defensivverhalten lernt? Spitz antwortete Zorniger. „Vielleicht am 22. oder am 24. Februar, ich weiß nicht genau.“ Robin Dutt befürchtet: „Das wird uns noch Monate beschäftigen. Wir müssen ruhig bleiben, doch um ruhig arbeiten zu können, brauchen wir Punkte.“ Ein Teufelskreis. Der VfB steckt immer tiefer darin.