Immer einen Schritt schneller: Großkreutz (VfB, re.), Hunt (HSV) Foto: Baumann

Zwei Minuten vor Schluss zündet im Duelle gegen den Hamburger SV (2:1) noch einmal die VfB-Rakete und entfacht ein Feuerwerk der Begeisterung. So überwältigend kann Fußball sein. Aber auch so anstrengend.

Stuttgart - Es war dieser Moment, in denen der Patient auf jeden ärztlichen Rat dankend verzichtet: Ob Sie es vielleicht nicht doch lieber mal mit Angeln . . . Vor der Cannstatter Kurve türmten sich entfesselt feiernde Gestalten über einer hilflosen Person, die dem Namen nach auch aus Mittelerde hätte stammen können: Artem Kravets. Vor der Haupttribüne rannte der kurz zuvor ausgewechselte Daniel Didavi mit Karacho seinen Trainer über den Haufen, und auf den Rängen boxten sich die Fassungslosen vor Begeisterung gegenseitig die Oberarme blau.

Der Sportkamerad muss ja auch lange nachdenken, um sich an ähnliche Episoden zu erinnern. Denn der VfB Stuttgart hatte nicht nur irgendwie mit 2:1 (0:0) gegen den Hamburger SV gewonnen, er tat es mit einer Dramaturgie, die fast alles aufbot, was das große Schauspiel mit dem kleinen Ball zu bieten hat. Erst zwei Minuten vor dem Ende löste Kravets mit seinem Kopfballtreffer zum 2:1 die Spannung, die ins Unerträgliche gewachsen war. Versorgt mit einer Flanke, die der ebenfalls kurz zuvor eingewechselte Alexandru Maxim so präzise in den Strafraum zirkelte, als hätte die Nasa die Flugbahn berechnet.

Wechselbäder der Gefühle

Die 46 600 Besucher in der Mercedes-Benz-Arena jedenfalls jubelten, als gäbe es kein Morgen mehr, und gingen mit dem erhabenen Gefühl nach Hause, dass es im Leben doch noch so etwas geben könnte wie Gerechtigkeit. Denn was VfB-Trainer Jürgen Kramny lapidar mit dem Satz zusammenfasste: „Wir hätten es uns leichter machen können“, beschreibt nur sehr unzureichend die Wechselbäder, die das Publikum an den Rand der Raserei getrieben hatten. In den tragenden Rollen: meistens Timo Werner, aber auch Filip Kostic, Christian Gentner, Kevin Großkreutz und Lukas Rupp. Ihr Scheitern vor dem HSV-Gehäuse nahm mit zunehmender Spieldauer schicksalhafte Züge an.

Und als der phasenweise an die Wand gespielte HSV in einem lichten Moment völlig unerwartet zum Ausgleich durch Artjom Rudnevs (75.) kam, kurz darauf auch noch Ivo Ilicevic um Haaresbreite am wieder mal starken VfB-Schlussmann Przemyslaw Tyton scheiterte, da schien das Drama den gewohnten Lauf zu nehmen. Mit einem Ende unter Tränen. Dass sich trotzdem noch alles zum Guten wendete, hat vielerlei Gründe. Ganz sicher aber den, dass in Jürgen Kramny wieder ein Ordnungshüter am Werk ist, der den taktischen Geisterfahrten seines Vorgängers beherzt ein Ende setzte. Weil er die Mannschaft das spielen lässt, was sie am besten kann, hat sie wieder Spaß an dem, was sie macht. „Es ist ein überragendes Gefühl“, schwärmte Daniel Didavi.

Allzu häufig sollten es die Drama-Könige vom Cannstatter Wasen allerdings nicht auf die Spitze treiben. Denn die Gewähr, dass die Darbietung jedes Mal so endet wie gegen den HSV, vermag auch Kramny nicht zu geben. Die erdrückende Überlegenheit mündete erst reichlich spät und nach x Versuchen in das von Daniel Didavi erzwungene Eigentor durch Hunt. (66.). „Wir hätten da schon mit drei, vier Treffern führen müssen“, bestätigte der VfB-Coach. Und sein Hamburger Gegenüber Bruno Labbadia analysierte zerknirscht: „Eine abgezockte Elf wäre hier mit drei Punkten vom Platz gegangen.“

Rückschläge nicht ausgeschlossen

Weil das nur schwer zu widerlegen ist, tun die Sieger gut daran, auch nach dem fünften Spiel in Folge ohne Niederlage den Erfolg dort einzuordnen, wo er der Tabelle nach noch immer hingehört: in den Kampf gegen den Abstieg. „Wenn wir bei der Tour de France wären“, sagte Sportvorstand Robin Dutt, „würde ich sagen: Wir haben das Hauptfeld erreicht.“ Was nach den Erfahrungen vergangener Jahre aber auch bedeutet: Der eine oder andere Plattfuß kann bis auf weiteres nicht ausgeschlossen werden. Die Defensive etwa arbeitet einigermaßen stabil, Bruchfestigkeit muss sie aber erst noch beweisen. Und im Angriff weist allein das Verhältnis zwischen Chancen und Toren darauf hin, dass der 19-jährige Stürmer Timo Werner eben noch kein alter Hase ist. „Es war wieder ein kleiner Schritt nach vorn“, sagte Jürgen Kramny. Aber die großen Gefühle gestatten vorerst nur kleine Träume. Wie resistent er und sein Team gegen den Rückfall in alte Zeiten sind, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen.

Immer mehr zeichnet sich dagegen ab, was möglich gewesen wäre, wenn Trainer Alexander Zorniger den spielerischen und taktischen Faden dort wieder aufgenommen hätte, wo er vergangene Saison endete. Doch statt Schadenersatz für seine Borniertheit zu zahlen, kassiert er 1,5 Millionen Euro Abfindung. Verknüpft mit einem Maulkorb bis zum 30. März. Was ihn offenbar aber nicht davon abhält, unter Freunden schon jetzt von neuen Angeboten zu schwärmen.

Spötter behaupten: Das vom Dschungelcamp sei noch das beste.