VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo zählt zu den Gewinnern in der Bundesligabranche. Foto: imago//Cathrin Müller

Als der Stuttgarter Cheftrainer vor einem Jahr verpflichtet wurde, war er ein No Name. Dann formte der 43-Jährige ein junges, begeisterungsfähiges Erstligateam – und gewann auch selbst an Format. Eine Zwischenbilanz.

Stuttgart - Zwölf Monate ist es erst her, da war der Name Pellegrino nur Liebhabern eines edlen Mineralwassers aus der Provinz Bergamo ein Begriff. Pellegrino Wer? Das war am 30. Dezember 2019 daher die häufigste Reaktion auf die für die meisten VfB-Fans wenig prickelnde Nachricht, dass der Traditionsclub aus Bad Cannstatt einen gewissen Pellegrino Matarazzo als Nachfolger für den am Tag vor Heiligabend geschassten Chefcoach Tim Walter verpflichtet habe.

 

Denn den 1,98-Meter-Schlaks aus Paterson bei New York („Von einem kleinen Hügel aus waren die Hochhäuser von Manhattan zu sehen“), in dessen Vita bis dahin der Co-Trainerposten bei der TSG Hoffenheim als Karrierehöhepunkt auftauchte, den hatten lediglich ganz erlesene Experten auf dem Zettel. Den Stuttgarter Vorstandsboss Thomas Hitzlsperger und speziell seinen Sportdirektor Sven Mislintat, die darf man zwar den Fußballautoritäten zurechnen. Dennoch war ihre Entscheidung pro Matarazzo extrem mutig – bis hochgradig riskant.

Das Projekt mit Tim Walter scheitert

Denn der VfB, er stand als finanziell gebeutelter Absteiger zum Jahresende 2019 nach einem 2:2 in Hannover als Dritter der zweiten Liga ja nicht gerade überragend da. In Tim Walter hatte sich das Duo Hitzlintat, in dieser Besetzung in Stuttgart selbst erst seit Frühjahr 2019 im Amt, nur sechs Monate zuvor für die gnadenlos selbstbewusste Trainervariante entschieden. Doch Tim Walters Projekt Ballbesitzfußball, eine Art schwäbisches Mir-san-Mir, war ruckzuck krachend gescheitert.

Daher darf es rückblickend kaum verwundern, dass es beim VfB auch ein paar Entscheider gegeben hat – allen voran der Präsident Claus Vogt –, die intern ihre Zweifel an der Personalie Pellegrino Matarazzo äußerten.

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Noch Ende Mai, als Sportchef Mislintat den Vertrag mit seinem Cheftrainer hemdsärmelig um ein Jahr bis 2022 verlängerte, da schlugen viele in und um das rote Clubhaus die Hände vor dem Gesicht zusammen. Schließlich hatten die Stuttgarter da gerade in Wiesbaden und Kiel verloren, und sie besaßen nach 27 Zweitliga-Spieltagen satte acht Zähler Rückstand auf den Spitzenreiter Arminia Bielefeld.

Ein halbes Jahr später sehen jetzt alle klarer. Man muss zwar kein Prophet sein: Wäre der VfB nicht aufgestiegen, Mislintat und Matarazzo hätten am Neckarufer längst zusammen gepackt – und der VfB wäre um ihre Abfindungen ärmer. Doch wer Erfolg hat, der hat immer recht. Gerade im Profifußball. Und so besitzt der Erstligist VfB auf einmal rosarote Zukunftsperspektiven. Die Stuttgarter grüßen zum Jahreswechsel von Platz sieben der Bundesliga, weil zahlreiche Spieler – etwa Silas Wamangituka, Tanguy Coulibaly, Waldemar Anton, Wataru Endo, Nicolas Gonzalez oder Orel Mangala – einen großen Entwicklungssprung hingelegt haben. Einige Optimisten träumen bereits vom internationalen Geschäft.

Das schwere Erbe beim VfB

Dies alles hat ganz viel mit der inhaltlichen Arbeit von Pellegrino Matarazzo zu tun, der zunächst auch damit beschäftigt war, das sportliche Erbe des Tim Walter sukzessive auszuschleichen. Denn Dominanz und Ballbesitz allein, das ist inzwischen sonnenklar, sie passen nicht zu einem VfB-Team, das etwa in dem Japaner Endo den besten Zweikämpfer der Liga in seinen Reihen hat. Da darf man gerne auch mal auf Umschaltaktionen und auf Konterspiel aus sein. Matarazzo hat das schnell erkannt.

Spätestens seit dem Aufstieg kann der 43-Jährige sein taktisches Konzept nun voll durchziehen. Dass er mit 31 Spielern pandemiebedingt einen XXL-Kader bei Laune halten muss, hat er sich nicht ausgesucht. Doch der Trainer geht mit diesem Umstand bislang souverän um. Zumal in der Winterpause ja noch Spieler abgegeben werden sollen.

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Tatsächlich hat der Chefcoach-Novize von der Corona-Lage auch profitiert. So findet das Training seit Monaten ausnahmslos hinter verschlossenen Türen statt. Fans und auch die Medienvertreter rücken Team und Trainer daher nicht so dicht auf den Pelz wie zu normalen Zeiten. Für einen Neuling und seine Ideenvermittlung ist dies ein Vorteil.

Der Trainer zeigt keine Berührungsängste

Allerdings macht Matarazzo nicht den Eindruck, als hätte er Berührungsängste. Mit seinen Spielern sucht er in seinem Trainerzimmer im hinteren Bereich des Clubgebäudes oft das Einzelgespräch, um ihnen Entscheidungen zu erklären – oder um sie zu motivieren. Pellegrino Matarazzo gewährt mehr Einblicke in seine Arbeit als manch ein sogenannter alter Hase im Geschäft. Er kann auch zuhören, besitzt dabei oft einen verschmitzten Charme und lächelt dann in seinen Bart hinein.

Als studierter Mathematiker mit Abschluss an der Columbia-Universität ist der Italo-Amerikaner, der mit Ehefrau Daniela den Sohn Leopoldo hat, ein detaillierter Analytiker und ein Taktik-Tüftler par excellence. Matarazzo hätte als Investmentbanker an der Wall Street arbeiten können – doch lieber kämpfte er dafür, sein Hobby zum Beruf zu machen.

„Ein Glücksfall für den VfB“

„Ich könnte stundenlang über solche Themen reden“, sagte er einmal, als es darum ging, was seiner Mannschaft noch an Widerstandsfähigkeit auf dem Platz, an Abgezocktheit und taktischer Schläue fehle. „Rino ist vom Fachwissen und durch seine Sozialkompetenz ein absoluter Glücksfall für den VfB. Er ist mit seiner Art, wie er mit dem Team arbeitet und junge Spieler entwickelt, ein ganz wichtiger Faktor, damit wir unseren Weg gehen können“, sagt Sven Mislintat. Gemeinsam mit dem Sportdirektor, mit AG-Chef Hitzlsperger und dem Direktor Sportorganisation Markus Rüdt, bildet der Trainer den inneren Zirkel in allen sportlichen Entscheidungen.

Von außen reinreden lässt sich dieses Quartett ganz ungern. Doch Pellegrino Matarazzo kennt seinen Platz in diesem Gefüge. Spielerwünsche darf er äußern, doch letztlich hat Mislintat in Transferfragen den Hut auf. So gesehen ist Matarazzo für die Bosse bei allem Risiko eine doppelt schlaue Wahl. Ihr Kandidat hat gehalten, was er versprach – und gewinnt stetig an Format. In Grundsatzfragen aber wird sich Matarazzo nicht querlegen. Und doch sollte man ihn nicht unterschätzen. So analysiert der VfB-Cheftrainer auch sein Umfeld konsequent, und lernt dazu.

Nur selten ein brodelnder Vulkan

Matarazzos Vater stammt aus Avellino, die Mutter aus Salerno, einem Städtchen unweit von Neapel am Fuße des Vesuv. Dass auch ein emotionaler Vulkan in ihm brodelt, das zeigte sich bisher allerdings nur bei Fehlentscheidungen des Schiedsrichter-Gespanns, als der sonst so geerdete Trainer an der Seitenlinie schon mal aus der Haut fuhr. Dennoch ist zu vermuten, dass man beim VfB sämtliche Facetten des Pellegrino Matarazzo noch längst nicht kennengelernt hat.

Das waren die Stationen im ersten Trainerjahr von Pellegrino Matarazzo beim VfB. Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie!