Wolfsburgs Keeper Koen Casteels (oben) trifft VfB-Kapitän Christian Gentner (li.) mit dem Knie am Kopf. In den Augen vieler Beobachter ein klares Foul. Foto: Baumann

Der Kapitän ist schwer verletzt. Nun versucht der VfB Stuttgart, damit bestmöglich umzugehen. Diskussionen ums Regelwerk und den Schiedsrichter gibt es dennoch.

Stuttgart - Man hätte vermutlich von einem ganz netten Sonntagvormittag gesprochen. Ein bisschen neblig zwar, aber doch recht freundlich – das Wetter. Körperlich ausgelaugt, aber doch bester Laune – die Stimmung. Weil am Tag zuvor ja vieles so gut geklappt hatte. Der VfB Stuttgart hatte den VfL Wolfsburg 1:0 besiegt, den zweiten Saisonsieg errungen und sich eine gute Basis für die kommenden Wochen geschaffen. Aber bester Laune war keiner am Sonntagmorgen an der Mercedesstraße in Stuttgart.

Zu schwer lastete noch immer eine Szene auf den am Spiel Beteiligten, die so schnell keiner vergessen wird. Und die schlimme Folgen hatte für einen von ihnen. Für ihren Anführer. Für ihren Kapitän. Der vom einen auf den anderen Moment aus der Saison gerissen wurde. Und für den alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Es lief die 84. Minute im Spiel des VfB gegen die Gäste aus Wolfsburg. Dennis Aogo flankte, der Ball segelte in den VfL-Strafraum, dort wartete Christian Gentner. Dort kam aber auch Koen Casteels mit viel Schwung angeflogen, der Gäste-Torhüter hatte rund zwölf Meter vor dem Tor eine Faustabwehr im Sinn. Die klappte, gleichzeitig traf er mit seinem angezogenen linken Knie aber auch die rechte Gesichtshälfte von Christian Gentner, der bewusstlos auf den Boden sackte. Was folgte war das, was der Trainer Hannes Wolf später als „dramatische Minuten“ bezeichnete. Für alle im Stadion.

Sportliche Bedeutung nicht im Vordergrund

VfB-Arzt Raymond Best sprintete auf das Feld, noch bevor das Spiel unterbrochen war – zum Glück. Gentner hatte seine Zunge verschluckt, der Mediziner verhinderte mit seiner schnellen Reaktion womöglich Schlimmeres. Wenig später eilte Wolf zu seinem Kapitän, der wieder bei Bewusstsein war und fragte, was eigentlich passiert sei. Der Coach antwortete nur: „Du hast eine schwere Gehirnerschütterung.“ Details wollte er ihm ersparen. Die Diagnose gab es dann am Abend in der Klinik.

Schwere Gehirnerschütterung, Bruch von Augenhöhle, Oberkiefer und Nasenbein, an diesem Montag wird Gentner wohl operiert. Immerhin: Nach Lage der Dinge wird der 32-Jährige keine bleibenden Schäden davontragen. Wann er wieder ans Fußballspielen denken darf, ist allerdings völlig offen. In diesem Jahr wohl nicht mehr. In einer sportlichen Bewertung sagte Michael Reschke: „Christian wird uns brutal fehlen, dieser Sieg ist sehr teuer erkauft.“ Doch wollte kaum einer das Geschehene auf eine sportliche Bedeutung reduzieren. „Es geht um Christian, um seine Familie und darum, dass er da gut rauskommt“, sagte Reschke daher auch. Diskutiert wird seit Samstagnachmittag dennoch anhand der schlimmen Szene. Auf zweierlei Ebenen.

Die Meinungen gehen auseinander

Die eine betrifft die Bewertung der Situation im regeltechnischen Sinn. Zwar machte keiner Koen Casteels einen Vorwurf, VfB-Torwarttrainer Marco Langner sprach gar von „normalem Torhüterverhalten“. Die entscheidenden Fragen wurden dennoch gestellt: Darf ein Torhüter derart brachial aus seinem Kasten kommen? Begeht er mit seinem angezogenen Bein im Falle eines Körperkontakts einen Regelverstoß? Hätte es Elfmeter und eine Verwarnung geben müssen? Die Meinungen gehen auseinander.

Ex-Schiedsrichter Markus Merk sagte in seiner Rolle als TV-Experte bei Sky, der Belgier hätte „mindestens Gelb“ sehen müssen. Hellmut Krug, der Schiedsrichterchef des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) meinte, Referee Guido Winkmann (Kerken) habe die Szene „als unglücklichen Zusammenprall gewertet“ und Videoassistent Deniz Aytekin diese Sichtweise auf Nachfrage bestätigt. „Regeltechnisch ist die Entscheidung zwar grenzwertig, aber vertretbar“, sagte Krug. Wobei ein Blick ins Regelwerk einen anderen Schluss zulässt.

Dort heißt es unter anderem: „Ein Vergehen mit Körperkontakt wird mit einem direkten Freistoß oder Strafstoß geahndet.“ Und: „Rücksichtslosigkeit liegt vor, wenn ein Spieler ohne Rücksicht auf die Gefahr oder die Folgen für einen Gegner handelt. Ein solcher Spieler muss verwarnt werden.“ Nach einer gewissen Zurückhaltung am Samstag legte sich auch der VfB am Sonntag fest. Stellvertretend meinte Trainer Wolf: „Das war ein klares Foul. Das Knie hat auf 1,90 Metern Höhe nichts zu suchen.“ Erstaunlich fand er es im Rückblick, dass ein Pfiff des Schiedsrichters, der die Unterstützung des Videoassistenten und während der Behandlungspause viel Zeit zur Bewertung hatte, ausblieb.

Spiel erst spät unterbrochen

Casteels, der nach der Partie betroffen wirkte, meinte dagegen: „Wenn das Foul ist, muss man die ganze Jugendausbildung umstellen.“ Schon da werde Torhütern beigebracht, „dass du das linke Knie mitnimmst, wenn du mit rechts hochgehst“. Allerdings fand auch Langner: „Es war ein klares Foul.“ Doch es gab ja auch noch eine andere Diskussionsgrundlage.

Die Tatsache nämlich, dass Winkmann das Spiel trotz Gentners kritischem Zustand viele Sekunden lang gar nicht unterbrochen hatte. Dass er wohl auch vom vierten Offiziellen oder seinen Assistenten kein Signal bekommen hatte, dass da Schwerwiegendes passiert sein könnte. Auch dazu gibt es im Regelwerk einen klaren Satz: „Der Schiedsrichter hat das Spiel zu unterbrechen, wenn ein Spieler ernsthaft verletzt ist.“

Über all das diskutierte man beim VfB ein klein wenig entspannter, weil die Entscheidung einerseits keinen Einfluss auf das Ergebnis hatte. Zum anderen, weil immerhin klar ist, dass Gentner wieder gesund wird. Und weil der Mensch eben doch wichtiger ist als einzelne sportliche Entscheidungen. Also sagte Michael Reschke auch: „All diese Diskussionen stehen nicht im Verhältnis zu dem, was passiert ist.“