Trainer Albert Sing kehrte 1974 auf den Wasen zurück. Seine Mission blieb erfolglos – Sing und der VfB stiegen ab Foto: Baumann

Dem VfB Stuttgart droht mal wieder der Abstieg aus der Fußball-Bundesliga. Ein Schicksal, das den Verein schon einmal ereilte. Zumindest eine Parallele zu damals gibt es.

Stuttgart - Die Nacht der langen Messer von Cannstatt gehört längst zur VfB-Folklore. In einer Schlammschlacht hatte Gerhard Mayer-Vorfelder an jenem 18. April 1975 die Macht an sich gerissen. Er löste Präsident Hans Weitpert ab, dessen große Stärke Fußballsachverstand nicht war. Von dem 1993 verstorbenen Verleger ist das Bonmot überliefert: „Besorgen Sie mir einen Librio.“ Gemeint war ein Libero, zur Stärkung der Abwehr. Doch das war in der Saison 1974/75 gar nicht das Problem. Die Ursachen lagen tiefer. „Die Mannschaft war innerlich zerrissen“, erinnert sich Heinz Bandke, damals Verwaltungsratsvorsitzender. Auf jeden Fall war sie aber nicht so schlecht, dass sie am Ende hinter Clubs wie Rot-Weiß Essen oder dem MSV Duisburg zurückbleiben und als Tabellen-16. zum bislang einzigen Mal in der Geschichte den Gang in die Zweitklassigkeit antreten musste.

Vom Himmel in die Hölle – oder von Europa nach Völklingen, dem damaligen Sinnbild für Zweitligaprovinz. Im Jahr zuvor hatten die Roten noch im Halbfinale des Uefa-Cups gestanden. Der VfB war wer, in Deutschland, in Europa. Die Folge: „Einige dachten, sie seien die Allergrößten“, blickt Bernd Martin zurück. Entsprechend traten sie auf. Überheblich, mit einem Hang zur Schönspielerei. „Und dann spielten wir in Bochum, in Kaiserslautern. Die haben uns vom Platz getreten, da überkommt einen heute noch die Angst“, erinnert sich der damals 19-Jährige Martin, der seine zweite Saison für den VfB spielte.

Schnell steckten die Roten im Keller. Die Mechanismen waren dieselben wie heute. Trainer Herrmann Eppenhoff musste gehen, kurz vor Weihnachten übernahm Albert Sing. Der „eiserne Albert von der Alb“ hatte den VfB 1966/67 schon einmal gerettet, es konnte also nichts schiefgehen. Dachte man. Doch schnell stellte sich heraus, dass Sing mit seiner „11-Freunde-müsst-ihr-sein“-Philosophie aus der Zeit gefallen war. Damals schon. „Im Trainingslager mussten wir in den Wald und Volleyball spielen “, erzählt Martin. Oder Spachteln. Ein Lagerfeuer-Spiel für Kinder! Die Stars mit dem Brustring, für die sie sich hielten, fassten sich an die Stirn. „Die Autorität des Trainers war völlig untergraben“, sagt Bandke. Doch Sing (damals 58) hatte kein Gespür für die Strömungen in der Mannschaft. Im Gegenteil. Er dachte, mit Volksliedern wird alles gut. Im Trainingslager befahl er Heinz Stickel, seine Frau anzurufen. Sie solle ihm den Text zu „Hoch auf dem gelben Wagen“ durchgeben. „Spätestens da hat ihn niemand mehr ernst genommen“, erinnert sich der heute 60-Jährige, der insgesamt 219 Spiele für die Roten bestritt.

Hoch auf dem gelben Wagen in die zweite Liga

Lustige Liederabende – das passte weiß Gott nicht zu der Truppe. Hans-Joachim „Hanjo“ Weller war vor der Saison von 1860 München an den Neckar gewechselt. „In München sind die Kühe schöner als die Frauen in Stuttgart“, ließ er seine neuen Mannschaftskameraden wissen. Um den Gegenbeweis anzutreten, ging es gemeinsam ins Städtle, mit Vorliebe in Pelzmäntelchen, die Günter Netzer vor Neid erblassen ließen. Buffy Ettmayer, den schönen Dingen des Lebens noch nie abgeneigt, entgegnete Sing, der dem Nationalspieler vorhielt, ihn schon schlanker gesehen zu haben: „Trainer, das war im Schmalfilm.“

Der Österreicher gehörte mit Roland Mall zum Grüppchen der Techniker, der Kreativen. Dem gegenüber standen Arbeiter wie Willi Entenmann, Reinhold Zech oder Egon Coordes. Die Dissonanzen gingen so weit, dass sich die Kicker gegenseitig Prügel androhten. Und es gab niemanden, der von außen dazwischengehauen hätte. So ergab sich der VfB seinem Schicksal. Das rückblickend, darin sind sich alle Beteiligten einig, mit dem Heimspiel gegen Werder Bremen besiegelt schien. Es war am Tag nach MVs Machtübernahme, der VfB ging zweimal in Führung, am Ende hieß es 2:2, und Sing musste eingestehen: „Ich bin kein Wundermann.“ Auf die Frage, ob ihm jetzt der Rauswurf drohe, antwortete der Eislinger: „Na gang i halt uff d’Fildre Krombiere gruble.“

Die anderen grübelten, wie es so weit kommen konnte. Hermann Ohlicher meint rückblickend: „Wir haben uns zu früh aufgegeben.“ Nach dem Bremen-Spiel waren es noch sechs Partien, aber „wir waren in einer Art Ohnmacht“, so der heutige Ehrenratsvorsitzende. Auch der neu gewählte Präsident vermochte in der kurzen Zeit keine Aufbruchstimmung zu erzeugen. Am 33. Spieltag nach einem 3:3 in Duisburg war der Club aus Cannstatt endgültig abgestiegen.

40 Jahre später droht dasselbe Schicksal. Parallelen zu damals gibt es. Vordergründig festzumachen am Trainer. Auch Huub Stevens ist Rückkehrer. Bei seiner ersten Mission hatte er Erfolg – wie damals Albert Sing. Ob es ihm dieses Mal wieder gelingt? Noch bleiben ihm beginnend mit dem Spiel bei 1899 Hoffenheim (15.30 Uhr/Sky) 14 Spiele. Anders als bei Sing hat Stevens jedoch kein Problem mit fehlender Autorität. Auch ist die aktuelle Mannschaft nicht in Grüppchen zerfallen. Der wesentliche Unterschied zu 1975: Damals konnte den Absturz niemand voraussehen und in der Folge auch nicht mehr stoppen. Heute wäre der Absturz zumindest keine Überraschung mehr. Aber einer mit viel weit reichenderen Folgen. Niemand kann garantieren, dass es schnell wieder hochgeht. Ohlicher: „Ich weiß nicht, was aus dem VfB geworden wäre, wenn wir damals nicht schon nach zwei Jahren wieder aufgestiegen wären.“