Fan-Protest beim VfB Stuttgart gegen die mögliche Abschaffung der zweiten Mannschaft. Foto: Baumann

An diesem Sonntag bittet der VfB Stuttgart zur Mitgliederversammlung. Zu diskutieren gibt es einiges – wirklichen Streit gibt es indes nur um die Zukunft des U23-Teams.

Stuttgart - Sollten die sozialen Netzwerke tatsächlich so etwas sein wie ein Seismograf für Stimmungen, dann wäre Michael Reschke gut beraten, seine Worte mit mehr Bedacht zu wählen. Zutiefst überzeugt von der unwiderstehlichen Kraft seiner Argumente, startete der Sportvorstand des VfB Stuttgart ein öffentliches Tribunal über Sinn und Zweck der hauseigenen U-23-Juniorenauswahl: Einst gefeiert als sprudelnder Quell von VfB-Talenten wie Timo Hildebrand, Andy Hinkel, Kevin Kuranyi oder Mario Gomez brandmarkte Reschke das Modell als teuer, unwirksam und vom Lauf der Zeit überholt – und machte damit nicht nur auf Facebook und Twitter ein Fass auf, das ihm nun immer mal wieder auf die Füße fällt.

Widerstand gegen Reschkes Löscharbeit

In Teilen der weiß-roten Glaubensgemeinschaft formiert sich jedenfalls Widerstand gegen die geplanten Lösch-Arbeiten. Weniger wohl, weil die sportfachlichen Argumente sämtlich dagegen sprechen. Vielmehr wird das Vorhaben des selbstbewussten Rheinländers zum Prüfstein dafür, ob es das Führungspersonal der ausgegliederten VfB-Fußball-AG ernst meint mit ihrem Bestreben, die Tradition des bald 125-jährigen Vereins zu wahren und die Meinung der Fans zu respektieren. Denn die zweite Mannschaft, unter dem Titel „Amas“ geführt, ist manchen so heilig wie der rote Brustring auf dem weißen Trikot.

So köchelt vor der Mitgliederversammlung des Vereins für Bewegungsspiele 1893 e. V. in Teilen des Fanlagers eine aus Emotionen gespeiste Mixtur, die den VfB Stuttgart mit dem Misstrauen übergießt, das inzwischen großen Teilen der Liga begegnet: Man fürchtet den unheiligen Kreuzzug renditeorientierter Investoren. Die abschreckendsten Beispiele nennen Kritiker wie im Schlaf: RB Leipzig, 1899 Hoffenheim, Bayer Leverkusen und der VfL Wolfsburg.

Unbequeme Fragen der VfB-Mitglieder

Gut möglich also, dass den großen Manitu vom Cannstatter Wasen und seine Indianer in Halle 1 der Landesmesse noch einige unbequeme Fragen erwarten. Zwar beeilte sich Wolfgang Dietrich, Präsident und Vorsitzender des AG-Aufsichtsrats, zu versichern, dass das Schicksal der U 23 noch nicht besiegelt sei. Aber sein Mantra von der „endgültigen Entscheidung“ , die „erst im Januar fällt“, gilt seinen Kritikern als taktisches Manöver, um den Frieden bei der Mitgliederversammlung zu wahren. Die Würfel, heißt es allerorten im Verein, seien längst schon gefallen.

Die Causa gießt einerseits ein wenig Wasser in den Wein. Denn die sportliche und wirtschaftliche Bilanz des Wiederaufsteigers gibt einigen Anlass zu Optimismus. Andererseits belegt sie eben auch, dass Teile des VfB-Fankollektivs über das Erbe des Vereins aufmerksam wachen. „Ich hätte nicht erwartet, dass dieses Thema derart Wellen schlägt“, sagt Benjamin Layer, Vorsitzender des Leutenbacher Fanclubs Weiß-Rote Schwoba, „die Meinungen gehen weit auseinander.“ Joachim Schmid, Chef des größten VfB-Fanclubs Rot-Weiße Schwaben Berkheim, vermutet, die Vereinsführung habe die Bedeutung der U 23 für den Wohlfühlfaktor der Kundschaft ein wenig unterschätzt: „Die Diskussion darüber ist derzeit der größte Kritikpunkt.“ Und gemessen am Zustand der meisten Ligarivalen ein Luxusproblem.

Den Hamburger SV drückt ein Minus von 100 Millionen Euro, die Geschäftsführer von Mainz 05 proben den Aufstand gegen den Präsidenten Johannes Kaluza, bei Borussia Dortmund greift kein Rädchen mehr ins andere, in Hannover klagt die Opposition gegen die Vereinsübernahme durch Präsident Martin Kind. Und der viel gepriesene 1. FC Köln ist derart erfolglos, dass zynische Fans eine Facebook-Gruppe gründeten, in der sie zur Wiederaufstiegsfeier im Mai 2019 bitten.

Präsident Wolfgang ist ungeduldig

„Unser Ziel war es, nach einer sehr schwierigen Phase wieder Ruhe in den VfB zu bringen“, sagt Wolfgang Dietrich, „das ist uns gelungen.“ Mit dem Glück der Tüchtigen. Am 9. Oktober 2016 wählten ihn die Mitglieder mit knapper Mehrheit ins Ehrenamt (57,2 Prozent). Seine Beliebtheitswerte sind seither nicht ins Unermessliche gestiegen, aber unter seiner Regie gelang der Wiederaufstieg, er hat die Ausgliederung in eine AG gedeichselt, die Gremien neu geordnet, die Kommunikation mit den Fans verbessert und Sportvorstand Jan Schindelmeiser wegen interner Unvereinbarkeiten kurzerhand gegen Michael Reschke ausgewechselt. „Er ist einer dieser Manager, die manchmal ganz schön unbequem sind“, sagt Benjamin Layer, „aber der VfB arbeitet wieder auf Zug. Und das ist es, was wir alle erwartet haben.“

Auch intern treibt Dietrich dem einen oder anderen Mitarbeiter die Schweißperlen auf die Stirn, wenn er ungeduldig die vereinbarten Ziele einfordert oder unwirsch die letzten Komfortzonen beseitigt. Ein Aufsichtsrat der VfB-AG verrät hinter vorgehaltener Hand: „Es ist Dampf im Kessel. Aber manchmal muss man ihm schon sagen, dass er es nicht übertreiben soll.“

Die Liga-Konkurrenz steht nicht still

Zeit für langwierige Diskussionen ist eben das, was der VfB Stuttgart am wenigsten hat. Denn die Konkurrenz steht nicht still. Und die Wunden des Abstiegs sind geschlossen, aber noch nicht verheilt. Zwar meldet Finanzvorstand Stefan Heim am Sonntag ein dickes Plus, und der beliebte Trainer Hannes Wolf wird dafür gefeiert, aus dem VfB wieder ein Team geformt zu haben, das die Gegner fürchten und die Fans verehren. Benjamin Pavard (21), Timo Baumgartl (21), Santiago Ascacibar (20) und Chadrac Akolo (22) wachsen mit ihren Aufgaben wie einst die Jungen Wilden – geführt von erfahrenen Kräften wie Ron-Robert Zieler (28), Holger Badstuber (28), Andreas Beck (30), Dennis Aogo (30) und Christian Gentner (32). Experten sind sich einig: Die Mischung stimmt.

Trotzdem bleibt das erste Jahr nach der Rückkehr in die Beletage des deutschen Fußballs ein Kampf ums Überleben. Und weil eine erfolgreiche Mannschaft auch immer eine teure ist, wird die Bilanz in der nächsten Saison eher wieder rot als schwarz leuchten. Überdies arbeitet Michael Reschke daran, das Niveau des Kader weiter zu heben. Brauchbare Ballkünstler sind aber nicht für ein Taschengeld zu haben. Der Etat für die Profimannschaft liegt derzeit bei rund 50 Millionen Euro, 70 Millionen sollten es nach Meinung der Experten fürs Erste schon sein, wenn sich der VfB latenter Abstiegsgefahren entledigen will.

Der VfB Stuttgart boomt regelrecht

Den Großteil der VfB-Sympathisanten scheinen solche Innenansichten nur wenig zu kümmern. Sie rennen dem Verein die Bude ein. Die Mitgliederzahl ist auf beinahe 59 000 gestiegen, Tickets für die Top-Spiele sind heiß begehrt, das dunkelgraue Stadttrikot rissen sie den Verkäufern förmlich aus den Händen. Und wenn an diesem Sonntag der neunköpfige Vereinsbeirat gewählt wird, geht ein Wahlkampf mit 16 Bewerbern zu Ende, der phasenweise wirkte, als gehe es um den Einzug in den Deutschen Bundestag. Flyer wurden verteilt, Videoclips gepostet, in den Lokalzeitungen gaben die Kandidaten Interviews. Dabei sind die Befugnisse des neuen Gremiums begrenzt. Es schlägt Kandidaten fürs Präsidentenamt vor und bestätigt den jährlichen Finanzplan des Vereins, nicht etwa der AG.

„Man merkt, es geht voran“, sagt Fanclub-Chef Benjamin Layer, „auf die Worte folgten Taten.“ Und was Michael Reschke und seine Baustelle mit der U 23 anlangt, ist das letzte Wort angeblich ja noch nicht gesprochen

VfB Stuttgart - 1. Bundesliga

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