VfB Stuttgart, Tag des Brustrings, Vorstellung der Mannschaft: Die Fans kommen in Scharen Foto: Baumann

Der VfB Stuttgart erholt sich schneller als erwartet. Aber die Hypotheken der Vergangenheit wirken nach. Weiß-Rot geht gedämpft optimistisch in die neue Saison. Und mit der Bitte um Vorschuss.

Stuttgart - Am 9. September gibt es den VfB Stuttgart seit 125 Jahren. Selbstverständlich ist das nicht. Denn wer als Methusalem der weiß-roten Glaubensgemeinschaft die Geschichte des Vereins für Bewegungsspiele 1893 in den vergangenen Jahrzehnten miterlebt hat, weiß, wie Spitze auf Knopf es ein paar Mal um die Botschafter der württembergischen Fußballkunst stand. Sportlich wie finanziell.

Wenn der Verstand in den Bauch rutscht

Mutmaßlich erklärt das immerwährende Auf und Ab die unverbrüchliche Hoffnung unter den Jüngern des Brustrings, es möge sich dauerhaft alles zum Guten wenden. Die Begeisterung vor dem Anpfiff des ersten VfB-Spiels in der neuen Bundesliga-Spielzeit an diesem Sonntag in Mainz (15.30 Uhr, Opel-Arena) ist jedenfalls ist so gewaltig, dass nüchterne Geister Mühe haben, Anspruch und Wirklichkeit in ein gesundes Verhältnis zu setzen. Wenn der Verstand in den Bauch rutscht, macht die Ratio gern mal Pause.

Beim Tag des Brustrings rannte die Kundschaft dem Bundesligisten neulich regelrecht die Bude ein, 54 000 sahen am selben Tag das Testspiel gegen Atletico Madrid. „Unfassbar“, sagt der für gewöhnlich hartgesottene VfB-Boss Wolfgang Dietrich, „das musste ich erst mal sacken lassen.“ Andere waren schon weiter.

„Jetzt packen wir die Champions League“, brüllte vor kurzem ein Fan ungeachtet der kargen Vorstellung des VfB II im Gazistadion, der Spielstätte des Oberligisten Stuttgarter Kickers. Just dort, wo sich studieren lässt, wie unbarmherzig das Geschäft mit dem Kick einen einst renommierten Club in die Verliese der Bedeutungslosigkeit wirft.

Hohes Maß an Planungssicherheit

„Wir sind krisenfest“, beharrt VfB-Präsident Wolfgang Dietrich und zählt auf: Die Ausgliederung in die Aktiengesellschaft ist Fakt, die 41,5 Millionen Euro von Daimler sind geflossen. Der Präsident und Aufsichtsratschef amtiert noch zweieinhalb Jahre, der Sportvorstand noch drei. Und es müsste ihnen schon der Himmel über Cannstatt auf den Kopf fallen, wenn die hyperaktiven Chefstrategen nicht noch Lust auf eine Nachspielzeit hätten. Mit den Vorständen Stefan Heim (Finanzen) und Jochen Röttgermann (Marketing) hat die VfB AG um vier Jahre verlängert. Langfristige Kontrakte mit Profis und Trainerteam garantieren ein hohes Maß an Planungssicherheit. „Strukturell kann uns nicht viel passieren“, sagt Wolfgang Dietrich und seufzt, „ich hoffe nur, wir bekommen anders als zuletzt einen gewissen Vertrauensvorschuss von den Fans, wenn es mal zwei, drei Spiele nicht so gut laufen sollte.“ Er hätte auch sagen können, dass es vermessen ist, einen Club zum Herkules zu stilisieren, der im Frühjahr vergangenen Jahres noch verzweifelte Klimmzüge machte, um die Zugehörigkeit zur Beletage des deutschen Fußballs zu sichern.

45 Millionen Euro netto hat die VfB-AG vor dieser Saison in ihr kickendes Personal investiert. Eine Summe zwar, die einem noch vor Jahren den Atem geraubt hätte, inzwischen jedoch normal wirkt gemessen an den Erfordernissen des Circus Maximus. Wirtschaftlich ist das Paket zudem vertretbar angesichts der Transferwerte im VfB-Kader: über 100 Millionen Euro. Weltmeister Benjamin Pavard, das Juwel im Schmuckkästchen, noch gar nicht eingerechnet.

Stresstest für einige Neuzugänge

Wer vorgibt, etwas zu verstehen von Könnern und Kämpfern, notiert fürs Erste ein „gut“ unter den Neuzugängen, darunter Pablo Maffeo (21), Borna Sosa (20), David Kopacz (19) und Nicolas Gonzalez (20) – allesamt Wetten auf die Zukunft. Ihre Fähigkeiten sind zwar unbestritten, ob sie den Stresstest im Bundesliga-Alltag bestehen, ist allerdings eine ganz andere Frage.

„Die Richtung des VfB Stuttgart stimmt wieder“, sagt Wolfgang Dietrich jedenfalls vorsichtig, „wir haben ein Fundament, das uns auf unserem weiteren Weg hilft.“ Beispielsweise bei der Suche nach neuen Investoren.

Wie brüchig im Fußball jedoch alles sein kann, und wie schmal der Pfad, durfte er dieser Tage persönlich in Augenschein nehmen. Das schmähliche Aus im DFB-Pokal beim Drittligisten Hansa Rostock (0:2) mag sich mit den üblichen Anlaufschwierigkeiten zum Saisonstart erklären, unumstößlich bleibt: für den VfB war der erste Tanz schon der Abschlussball. Das ist schlecht fürs Renommee, schädlich fürs Selbstvertrauen und gar nicht gut für die Kasse. Himmel, hilf. Die Liga-Ouvertüre spielt die Mannschaft von Trainer Tayfun Korkut ausgerechnet in Mainz, dann kommt der Abo-Meister FC Bayern, danach warten die badischen Freunde vom SC Freiburg mit gewetzten Messern im Schienbeinschoner. Und es ist ja nicht so, dass die Mannschaft Übung darin hätte, die Hochburg der Karnevalisten zu schleifen. Zuletzt jedenfalls gab es gegen die Rheinhessen wenig zu lachen. „Ein schönes Paket“, nennt Sportvorstand Michael Reschke den Saisonauftakt und macht ein Gesicht aus Beton. Könnte ja sein, dass irgendein Schlaumeier seine Gesichtszüge interpretiert.

Es bleibt ein Rest an Skepsis

Möglich jedenfalls , dass Ex-Präsident Erwin Staudt Recht behält, der den Stuttgarter Medien einst den Pessimismus der Börsianer bescheinigte, die eine Aktie so lange schlecht reden, bis sie tatsächlich fällt. Gelinde Zweifel sind seit Jahrzehnten ihre ständigen Begleiter. Auch vor dieser Saison bleibt ein Rest an Skepsis. Gut möglich aber auch, dass Tayfun Korkut den Knopf findet, den er drücken muss, um seine Elf in den Lauf zu bringen, der sie auf den Weg nach oben führt. Wenn es gut läuft, sagen Experten wie Schalkes Sportvorstand Christian Heidel, „kann sich der VfB ins vordere Tabellendrittel reinspielen.“ Und wenn nicht? Dann sollte die Mannschaft ihre Getreuen wenigstens vor der Pein der Abstiegsangst bewahren. Tayfun Korkut lächelt und beruhigt.

„Ich habe viele Werkzeuge für gewisse Situationen“, sagt der Coach, der nach seiner Verpflichtung von einem Teil der Fans verunglimpft wurde, als hätte er Cannstatt mit dt geschrieben. Korkut gehört aber nicht zu denen, welche die Ungerechtigkeit der Welt beklagen. Er hat mit seinen 44 Jahren schon mehr erlebt, als andere im gesamten Leben. Er wiegt den Kopf und sagt: „Ich bin wieder zu Hause bei den schwäbischen Bruddlern.“ Er weiß die Eigenheit der hiesigen Mentalität ganz gut einzuschätzen. „Das spornt mich nur noch mehr an“, versichert der VfB-Trainer. Dann bemüht er das Bild von der Brücke über den Bosporus, die der ehemalige Assistenzcoach der türkischen Nationalmannschaft täglich querte, wenn er von zu Hause zur Arbeit fuhr. Einmal von Europa nach Asien. Und zurück. Der Coach fährt mit den Händen durch die Luft. „Völliges Verkehrschaos. Da ist es wichtig, die Nerven zu behalten. Wo fädle ich ein, damit ich wieder dort rauskomme, wo ich hin will?“

Wenig Platz auf der Überholspur

Für den VfB, so viel ist sicher, lässt die Konkurrenz vorerst noch wenig Platz auf der Überholspur. Der Abstieg in die zweite Liga riss ein Loch von fast 50 Millionen Euro. Bei der Verteilung der Fernsehgelder liegt der VfB noch immer auf einem der hinteren Ränge. Und bei allen vergangenen Erfolgen. Mit Tradition allein hat noch kein Sportvorstand einen Spieler verpflichtet.

„Das durch den Abstieg verlorene Geld kommt nicht wieder zurück“, sagt Wolfgang Dietrich. Die Konkurrenz profitiert noch immer von einem wirtschaftlichen Vorsprung. Mit Bedauern darüber mag er sich aber nicht aufhalten. Bis zum Jahresende will der Vereins-Präsident und Aufsichtsratschef der Fußball-AG den nächsten Investor an der Angel haben. Nach Möglichkeit einen, der 60 Millionen Euro mitbringt und dem VfB zu neuer Leuchtkraft verhilft. Die Ansprüche sind hoch. Mögliche Geldgeber sollen einen Mehrwert in der Vermarktung, in der Entwicklung der Infrastruktur oder für den sportlichen Bereich garantieren. „Daimler als unser Ankerinvestor“, bestätigt Dietrich, „ist auch in dieser Hinsicht ein echter Glücksfall.“ Anders ausgedrückt: Der Name lockt wie die Motten das Licht.

Wie immer es in der neuen Saison kommen mag: Am 9. September wird der VfB Stuttgart 125 Jahre alt. Er ist ein wichtiger Teil im Buch der deutschen Fußball-Geschichte. Um es frei nach Sepp Herberger zu sagen: Und das nächste Kapitel ist immer das schwerste.