Maria Ratrich, Werner Kirchert und Paula Fuhrmann halten eine Kopie der Meisterschale in der Hand Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Fußball ist mehr als nur ein großes Geschäft. Für viele Menschen ist es Leidenschaft oder gar Lebensinhalt. Daran will der VfB Stuttgart mit seinem Angebot für Demenzkranke anknüpfen und Erinnerungen wecken.

Stuttgart - Der Ball ist alt. Aus Leder genäht, zusammengehalten von Nähten. „Das hat ganz schön wehgetan, wenn man die Nähte an den Kopf bekam“, sagt Werner Kircher, als er den Ball in den Händen hält und langsam dreht. Werner Mueller ergänzt. „Wenn der Ball nass war, ist das Wasser rausgespritzt.“ Beide haben sie gekickt, in Leonberg und Hedelfingen, beide sind VfB-Fans, beide lassen sich von VfB-Historiker Florian Gauß die Mercedes-Benz-Arena zeigen - und beide verlieren allmählich ihr früheres Leben und ihre Erinnerungen.

Es ist dies heute keine normale Stadion-Tour. „Unvergessen“ hat sie der VfB Stuttgart genannt. Fünf Demenzkranke und ihre Betreuer sind dabei. Eine Stunde dauert sie, „wir folgen dem Weg der Mannschaft, den sie an einem Spieltag nimmt“, sagt Gauss. Sie gehen dort hinein, wo sonst der Bus des Teams vorfährt und die Spieler unter der Haupttribüne direkt vor dem Gang zu den Kabinen ablädt. Sofort zeigt sich, das Bruddler-Gen steckt tief im Schwaben und meldet sich jederzeit und besonders gern beim Thema VfB zu Wort. „Deshalb sind die so verweichlicht, weil die so viel fahren“, grummelt es. Und: „Wenn die mehr laufen würden, würden sie auch besser spielen.“

In Holland arbeitet man mit Demenzkranken anders

Beim Fußball muss man nichts runterschlucken und darf nach Herzenslust schimpfen. Sonst trägt der Schwabe ja sein Herz nicht auf der Zunge, aber beim Fußball darf alles raus: Freude, Jubel, Ärger, Wut. Gefühle, sie sind auch der Weg, um den Zugang zu Menschen zu finden, denen die Krankheit ihr Gedächtnis und ihre Persönlichkeit raubt.

In Holland arbeitet man bei der Pflege von Demenzkranken viel mit Musik und Gerüchen, um die Patienten anzuregen. Da gibt es etwa in einem Heim in Harlem eine simulierte Busfahrt auf einer Videowand an einen Strand. Während der Sand und die Wellen auf einer Leinwand erscheinen, unterhalten sich die Patienten über frühere Reisen. In Den Haag können die Patienten auf eine Art Fahrrad sitzen. Damit startet eine Videoreise durch ihre alte Nachbarschaft.

VfB-Fairplay kümmert sich um mehr als nur Fußball

Bilder im Kopf zu wecken, die mit Angenehmem und Schönem verknüpft sind, ist auch das Ziel der Aktion „Unvergessen“ des VfB. Christine Potnar ist für Fairplay verantwortlich. Eine Abteilung des VfB, die beweist und unterstreicht, dass Fußball mehr ist als nur ein Geschäft. Viel, sehr viel dreht sich ja bei einem Fußballclub darum, mehr Geld verdienen zu können, um den Spielern noch höhere Gehälter bezahlen zu können.

Aber es gibt durchaus noch anderes: Der VfB unterstützt seit Langem die Kinderkrebs-Nachsorgeklinik in Tannheim und die Vesperkirche, betreibt Projekte für Inklusion, Gewalt- und Drogenprävention und wider Rassismus, „kicken & lesen“ soll vor allem Jungs zeigen, dass es nicht nur Bälle, sondern auch Bücher gibt. 2013 hat der VfB diese Aktionen bei Fairplay gebündelt und seitdem stetig ausgebaut. Neuester Spross ist „Unvergessen“. Die Gesellschaft altert, und damit auch die VfB-Fans. Mit allen Folgen. 1,7 Millionen Menschen leiden in Deutschland an Demenz. „Wir wollen unsere gesellschaftliche Verantwortung mit Leben füllen“, sagt Portnar. Dazu gehöre auch, sich um die älteren Anhänger zu kümmern. „Wir wollen ihnen zeigen, dass sie nicht vergessen sind.“ Deshalb hat der VfB gemeinsam mit dem Netzwerk demenzfreundliches Cannstatt das Projekt entwickelt.

Meisterspieler kommen ins Pflegeheim

Es besteht aus zwei Teilen. Man geht zu jenen Menschen, die nicht mehr lange unterwegs sein können. So besuchte etwa Ex-Torhüter und Meisterspieler Helmut Roleder das Pflegeheim Haus im Sommerrain. Und brachte neben vielen Geschichten aus früheren Zeiten auch eine Kopie der Meisterschale mit. Was nicht nur die Bewohner entzückte, sondern auch einen Enkel, der seine Oma besuchte. Und nun vor seinen Klassenkameraden mit einem Foto mit der Schale renommieren kann.

Daneben gibt es die Tour durchs Stadion. Eine Stunde dauert sie, die Wege sind kurz, jederzeit ist eine Toilette sowie Gelegenheit zum Verschnaufen in der Nähe. Etwa in der Kabine des VfB. Dort zeigt Historiker Gauss alte und neue Bälle, Trikots und Schuhe. In einem kurzen Film sieht man die Helden von einst: Gilbert Gress, Rolf Geiger, Hermann Ohlicher, Karl-Heinz Förster, Timo Hildebrand, Guido Buchwald und etliche andere. Es zeigt sich, was jede Ehefrau weiß, die mitunter am Gatten verzweifelt: Er vergisst gerne, die Wäsche aus der Waschmaschine zu holen, aber niemals die Aufstellung der Meistermannschaft des VfB von 1984.

Tanzen zu Metallica

Dann geht es raus aufs Spielfeld. Aufstellung am Tunnel, vom Band tönen Gesänge und Anfeuerung, zur Einlaufmusik „Enter Sandman“ von Metallica marschieren alle los. Werner Kircher hat solchen Spaß, dass er hinaustanzt. Draußen dürfen sie Platz nehmen auf der Auswechselbank, und Gauß packt die Meisterschale aus. Jeder darf sie in die Hand nehmen. Und die Erinnerungen fliegen. Wo man einst saß, als man noch regelmäßig ins Stadion ging. Oder nicht durfte, „wir hatten keine Zeit, mussten samstags schaffen“, sagt Werner Mueller. Seine Eltern hatten ein Malergeschäft. Paula Fuhrmann hilft ehrenamtlich in der Tagespflege St. Monika in Neugereut und begleitet drei ihrer Schützlinge. Auch sie weiß eine Geschichte zu erzählen. „Mein Sohn hat während der Leichtathletik-WM 1993 die Mongolen betreut.“ Er brachte sie regelmäßig zu ihr zum Mittagessen. Am Ende gab sie dem Trainer für die Kinder zu Hause noch haufenweise Vitamin-C-Paste in Tuben mit.

Bitte einen Trollinger

Damit kann man Werner Kircher nicht locken. Er hat andere Vorstellungen. Die Tour endet in dem Raum, in dem nach dem Spiel die Pressekonferenzen stattfinden. Sprudel gibt es, Kircher allerdings „hätte gerne einen Trollinger“. Für Schwaben ist das ja ein Grundnahrungs- und kein Suchtmittel. Anders sieht es da mit Kokain aus. Die Meistertrainer des VfB werden als Fotos gezeigt. Helmut Benthaus erkennt keiner, Armin Veh schon, und dann gibt es ja noch, den Namen weiß keiner, dafür schallt „das ist doch dieser Mr. Doping“ durch den Raum. Exakt, Christoph Daum. Seine Eskapaden blieben im Gedächtnis. Damit endet die Tour. Doch sie wirkt lange nach. Sandra Hinzmann bedankt sich später und schreibt dem VfB, das erste Mal seit langer Zeit habe sie bei ihrem Papa ein Strahlen in den Augen gesehen, er habe sogar „kurz gelächelt“. Trotz aller sprichwörtlichen Bruddelei, mitunter bereitet der VfB auch Freude.

Infos und Anmeldung beim VfB Stuttgart unter E-Mail c.potnar@vfb-stuttgart.de