Gabriele Ehrmann in der Leonhardskirche: Die Armut nimmt zu. Foto: Lg/Achim Zweygarth

Vor den Festtagen wird ein Andrang wie noch nie in den Feinkostgeschäften der Stadt erwartet, alle Menschen bleiben daheim und verkosten sich dort. Wenig später startet im Januar die Vesperkirche mit allen Einschränkungen in Zeiten von Corona. Ein Gespräch mit Pfarrerin Gabriele Ehrmann.

Stuttgart - Das Ziel erscheint inzwischen fast schon als Utopie. Eigentlich wurde die Vesperkirche in Stuttgart ins Leben gerufen, um den Ärmsten der Stadt etwas zu essen zu geben – und auf deren Sorgen aufmerksam zu machen. In der Hoffnung, dass genau diese Einrichtung nicht mehr nötig sein wird.

Frau Ehrmann, alles ist anders in diesem Jahr. Auch die Vesperkirche?

In jedem Fall, ja. Wir hoffen, dass wir die Vesperkirche gut hinbekommen. Es wird eine andere sein als sonst, eine Vesperkirche to go.

Sie haben im Frühjahr schon Erfahrungen gesammelt?

Das stimmt. Aber nun ist alles anders. Wir geben sieben Wochen lang Essen aus in umweltfreundlichen Behältern, aber der ganze Bereich der Gemeinschaft ist eingeschränkt. Wenn es die Infektionslage zulässt, hoffen wir darauf, die Kirche öffnen zu können. Aber zunächst geht das nicht. Im ersten Lockdown kam das Virus ja hauptsächlich mit Urlaubern ins Land, da sind unsere Gäste weniger gefährdet.

Vor dem Fest stehen die Menschen in der Schlange vor den Feinkostgeschäften, danach dann vor der Vesperkirche. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Wir haben schon den Eindruck, dass die Schere zwischen Arm und Reich durch Corona noch weiter auseinandergeht. Ein Beispiel aus meiner Gemeinde zeigt das. Der Mann ist in Kurzarbeit, die Frau hatte ein Putzstelle, die nun weggefallen ist, da gibt es dann Familien, da bricht alles zusammen.

Aber die Schere ging auch schon vor Corona auseinander?

Richtig. Die Armutsgruppen haben sich auch verändert, die Altersarmut nimmt immer mehr zu, drei Viertel unserer Gäste sind zwischen 50 und 70 Jahren.

Was ändert sich durch das Konzept am meisten?

Sehr viel. Die erste Dimension ist das Essen, klar. Aber das Essen in Gemeinschaft fällt weg. Und das war auch sehr wichtig, während der Vesperkirche gab es früher echte Freundschaften. Dann fallen alle kulturellen Veranstaltungen weg, der Friseurbesuch, die ganze Teilhabe. Und schließlich ist es auch Ziel der Vesperkirche, die Armutsthematik in die Öffentlichkeit zu tragen, arme Menschen und Politiker zusammenzubringen zum Beispiel.

Das sind schmerzhafte Einschnitte?

Ja, das tut weh. Aber ich glaube, selbst die Ausgabe von Essen gibt uns etwas von Gemeinschaft.