Foto: Piechowski

Auf dem Leonhardsplatz hat die Vesperkirche eröffnet - Täglich bis zu 800 Mittagessen.

Stuttgart - Die letzten Orgeltöne sind noch nicht verklungen, da gehen in der Leonhardskirche schon die Eingangstüren auf und zu, und bis vor in den Altarraum bildet sich rasch eine immer länger werdende Schlange. Am Sonntag eröffnet Pfarrerin Karin Ott mit ihrem Gottesdienst die diesjährige Vesperkirche: Sieben Wochen lang gibt es jeden Tag ein warmes Essen und begleitende Angebote - für Menschen, die nicht wissen, wie sie mit ihrem Geld über die Runden kommen sollen. Aber auch für jeden anderen, der sich angesprochen fühlt - seine Bedürftigkeit muss niemand nachweisen.

"Wir wollen Arme aus verschiedenen Milieus zusammenbringen", erklärt Medienpfarrer Christoph Schweizer. Denn viel schlimmer als die Armut selbst sei die Einsamkeit, die mit ihr einhergehe, weil gerade Älteren die Situation peinlich sei. Als Medienpfarrer ist Schweizer für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig - bei der Vesperkirche bietet er eine Schreibwerkstatt an.

Der Zuspruch jedenfalls ist groß, vor und in der Kirche sammelt sich schnell ein buntes Publikum: Junge Männer mit halbleeren Bierflaschen am Rucksack und Hund, Personen aus dem Rotlichtmilieu ebenso wie offenkundig mittellose Rentner. Die meisten bleiben lieber anonym. Kaum jemand möchte dadurch in Erscheinung treten, dass er Braten mit Spätzle und Salat isst - in der Kirche und für gerade mal 1,20 Euro.

Bis zu 800 Menschen können jeden Mittag dort verköstigt werden, insgesamt 30000 Essen waren es allein im letzten Jahr. Die Tendenz sei steigend, sagt Ott. Sie beobachte in den letzten Jahren Armut, die sich auf hohem Niveau verfestige. "Wir sind fast schon eine Art Frühwarnsystem: Erst tauchen die Leute bei uns auf, dann in der Statistik."

Gerda ist eine der 560 ehrenamtlichen Helfer. Die 72-Jährige schmiert Käsebrote für den Vesperbeutel, wie am Fließband geht es dabei zu. Seit ihr Mann gestorben ist, sucht sie Gesellschaft und möchte etwas von ihrem glücklichen Leben weitergeben, auch wenn sie Krebs hat. Die Vesperkirche sieht sie mit gemischten Gefühlen: "Das hilft den Leuten für eine kurze Zeit, dann sind sie wieder auf der Straße."

Was aber, wenn jemand das Geld nicht aufbringen kann? Mit knurrendem Magen gehe hier keiner nach Hause, beschwichtigt Schweizer. "Da findet sich dann schon eine Lösung", sagt auch die Pfarrerin. Der Preis für eine Mahlzeit ist nur ein symbolischer Unkostenbeitrag - dem nicht weniger als 240000 Euro an Spendenmitteln gegenüberstehen. Für Ott geht es ums Prinzip: "Wir wollen einfach, dass die Bedürftigen sich nicht als Almosenempfänger sehen", erklärt sie, "sondern uns auf Augenhöhe begegnen, indem sie für ihr Essen bezahlen."

Frau G. hat dafür einiges auf sich genommen. Die 46-jährige Frührentnerin ist am Vortag zum Betteln auf die Königstraße gegangen, mit Pappschild und Decke, um das nötige Geld aufzutreiben. Vor ein paar Jahren verdiente sie noch gut. Dann kam das Rheuma, dazu Diabetes, "damit's nicht langweilig wird", wie sie trocken bemerkt. Das Angebot hilft ihr, doch ihre Mahlzeit nimmt sie lieber mit nach Hause - zwischen den "ungepflegten Leuten" fühle sie sich nicht so wohl. Ihre Nachbarn wiederum sollen nicht erfahren, dass sie hierherkommt - die Augenhöhe zu anderen Menschen ist ihr wichtig.