Warme Essen und warme Worte wärmen Leib und Seele – in der Vesperkirche in Esslingen. Mancher Besucher wurde vom Schicksal hart gebeutelt. Mancher Ehrenamtliche versucht, solche kurvenreichen Biografien mit seinem Einsatz wenigstens zeitweise zu glätten.
Ein aufgestickter Fuchs prangt auf seiner Kochmütze und über der Brusttasche seines Kochkittels. Nein, es sei nicht so, dass er besonders ausgefuchst koche, scherzt der Träger. Er heiße Fuchs – darum trage er das Tier auf seiner Kleidung. Seit Jahrzehnten habe ihn aber niemand mehr mit diesem Namen angesprochen: „Jeder nennt mich Fuchsi.“ Er sei Küchenmeister in Rente und teile nun ehrenamtlich in der Vesperkirche im Neuen Blarer in Esslingen die Mahlzeiten aus. Sie werden angeliefert und im Gemeindehaus am Blarerplatz aufbereitet und ausgeteilt: „Ich bin ein Schöpfer. Ein kleiner. Der Große sitzt woanders.“
Und die Besucher schöpfen gerne aus dem Vollen und genießen die Mahlzeiten. Matthias Reichelt ist an diesem Montagnachmittag unter ihnen. Sein Leben hat eine 180-Grad-Wende genommen. Bis März des vergangenen Jahres, berichtet er, sei er Maler- und Lackierermeister mit eigenem, gut laufendem Geschäft gewesen: „Die Auftragsbücher waren bis weit ins Jahr 2025 hinein voll.“ Bei einem Autounfall wurde sein Unterarm zertrümmert, er konnte nicht mehr handwerklich arbeiten. Das Geschäft ging pleite, die Ehe in die Brüche. Er sei bei einem guten Freund untergekommen, der aber ein Alkohol- und Drogenproblem hatte, sagt der 28-Jährige. Besuche seiner dreijährigen Tochter wurden unmöglich. Da saß er am 23. Dezember auf der Straße. Die Stadt Esslingen hat ihm ein WG-Zimmer vermittelt – er möchte wieder auf die Beine kommen.
Sein Sitznachbar Rainer Bazlen kennt Zeiten der Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung. Nun hat er eine Wohnung vermittelt bekommen. Er habe eine Malerlehre begonnen, musste sie aber aufgrund von Allergien abbrechen. Nach einem Bandscheibenvorfall könne er nicht mehr voll arbeiten, der Tod seiner Ehefrau lastet ihm zusätzlich schwer auf der Seele. Die ehrenamtliche Arbeit beim Freitagsfrühstück in der Johanneskirche gibt ihm Halt. Er sucht nach einem Zwei-Euro-Job etwa im Sozialkaufhaus oder in der Diakonie. Die Vesperkirche sei eine gute Sache. Nur einen Mangel hat sie in Esslingen: Es kommen keine Stars des VfB Stuttgart. In der Stuttgarter Vesperkirche schauten die Edel-Kicker vorbei, witzelt er.
Ein pöbelnder Gast
Auch Pfarrer Christoph Schweizer muss schmunzeln. Jeden Tag sind in der Esslinger Vesperkirche Seelsorger als Ansprechpartner bei möglichem Gesprächsbedarf der Besucher vor Ort. Manche Gäste seien nicht in materieller, wohl aber in sozialer Hinsicht arm: Kontakte fehlten. Sie fühlten sich einsam, kämen wegen der Gemeinschaft hierher. Da stapft ein Besucher wütend durch den Gang zwischen den Tischen. Er pöbelt herum, schreit, schimpft: „Keiner hilft mir“. Sofort sind zwei kräftige Männer vom Serviceteam da, beruhigen, reden auf den Aufgebrachten ein, bringen ihn nach draußen.
Solche Szenen gibt es auch in der Vesperkirche. Projektleiter Bernd Schwemm kennt das bereits von den Vorgängerveranstaltungen: „Ruhig bleiben“, lautet das Zauberwort. Mancher Aufgebrachte lasse sich auch mit einem Stück Kuchen besänftigen. Er selbst muss sowieso die Ruhe selbst sein. Zum Beginn der Vesperkirche am Sonntag, 19. Januar, berichtet der stressresistente Mitorganisator, waren kurz nach der Eröffnung 150 Essen ruckzuck ausgeteilt. Er habe schon Angst gehabt, dass die noch vorrätigen 50 Mahlzeiten für einen weiteren Gästeansturm nicht ausreichen würden. Doch er musste niemand vor leeren Tellern sitzen lassen.
Volle Teller bringt Mara Winkler an die Tische. Sie ist mit Mitschülerinnen und Mitschülern der 13. Klasse der Käthe-Kollwitz-Schule in Esslingen ehrenamtlich für einen Tag im Service der Vesperkirche tätig. Von 10 bis 15.30 Uhr geht der Dienst, sagt die 19-Jährige. Im Religionsunterricht hätten sie über soziale Verpflichtung und Nächstenliebe gesprochen, und die Lehrerin habe einen Einsatz bei der Veranstaltung angeregt. „Das machen sie lieber, als in die Schule und den Unterricht zu gehen“, scherzt ein Besucher.
Essen gegen Einsamkeit
Auch Yvonne Piechnik muss lächeln. Die 49-Jährige kommt gerne hierher. Der Preis stimmt, das Essen ist gut, sie hat Gesellschaft: „Für sich alleine zu kochen, macht keinen Spaß. Und hier treffe ich viele bekannte Gesichter.“ Sie lebt vom Bürgergeld, etwa 560 Euro. „Sich damit gesund zu ernähren, ist schwierig. Obst und Gemüse ist unerschwinglich“, sagt sie. Und Kaffee und Kuchen, die auch in der Vesperkirche serviert werden, sind nicht drin, ergänzt ihr Nebensitzer Jerome Ullrich. Das Bürgergeld sei zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Der Arbeitsmarkt sei schwieriger und enger geworden. Es sei schwer, eine Alternative zu den staatliche Leistungen zu finden.
Bei Martin Fuchs war das anders. Er habe jahrelang das Glück gehabt, Beruf und Hobby miteinander verbinden zu können, sagt der ehemalige Küchenchef. Von diesem Glück möchte er nun etwas durch sein Ehrenamt in der Vesperkirche zurückgeben. Er ist eben ein Fuchs. Oder besser ein „Fuchsi“.
Die Vesperkirche im Gemeindehaus Neues Blarer in Esslingen
Veranstaltung
Die Vesperkirche wird unter der Überschrift „Gemeinsam an einem Tisch“ noch bis Sonntag, 2. Februar, im Gemeindehaus am Blarerplatz in der Esslinger Altstadt veranstaltet. Öffnungszeiten sind in diesem Zeitraum täglich von 11.30 bis 14.30 Uhr. Die Essensausgabe erfolgt von 12 bis 14 Uhr. Start war am Sonntag, 19. Januar.
Mahlzeiten
In der Vesperkirche werden Suppe, ein Hauptgang, Salat, Kaffee und Kuchen serviert. Die Gäste bezahlen einen symbolischen Beitrag von 1,50 Euro für eine Mahlzeit, die regulär mit 7,50 Euro zu Buche schlagen würde. Etwa 2200 Gäste kommen an allen Veranstaltungstagen ins Neue Blarer mit seinen 150 Plätzen.
Kosten
Für die Essen und andere Ausgaben zur Durchführung werden laut Projektleiter Bernd Schwemm pro Jahr etwa 40 000 Euro benötigt. Das Geld stamme aus Spenden. Wer sich etwa mit Kuchenspenden einbringen möchte, kann sich beim Projektleiter (bernd.schwemm@elkw.de) melden.