Rund 800 Essen werden inzwischen täglich in der Vesperkirche ausgegeben. Foto: Lichtgut

Der Stuttgarter Pfarrer Martin Fritz hat das Konzept einst entwickelt, das Armen in dieser Stadt für einige Wochen die Chance zur Teilhabe ermöglichen soll. Ein Ehrenamtlicher, der von Anfang an dabei war, erinnert sich.

Stuttgart - Es irritiert ihn jedes Jahr aufs Neue. Der Moment, wenn die Mitarbeiter der Vesperkirche am Nachmittag Kuchen verteilen. „Wie gierig die Leute da zugreifen“, sagt Hans-Jürgen Grünefeld. Das beobachtet er immer wieder. Dabei liegt dies nicht daran, dass die Leute kein Benehmen haben, sondern daran, dass es in ihrem Leben Kuchen äußerst selten gibt. „Dass sind Eindrücke, die man für sich selbst gar nicht kennt. Fast wie nach Kriegsende“, sagt der 79-Jährige.

Grünefeld war schon bei der ersten Vesperkirche in Stuttgart dabei. Er war damals im Kirchengemeinderat und wurde gefragt, ob er helfen könne. Von Beginn an engagiert er sich für das Projekt, das jeden Januar Armen und Obdachlosen in dieser Stadt ein Zuhause auf Zeit gibt. Er sei immer der „Springer vom Dienst“ gewesen: „Zugreifen, helfen, hier sein, anpacken“, das sei sein Job. Seit einigen Jahren ist er auch Hauswirtschaftsleiter.

Martin Fritz hatte einst die erste Vesperkirche in Stuttgart gegründet

Zum 25. Mal findet die Vesperkirche vom 13. Januar an für sieben Wochen statt. Der Stuttgarter Pfarrer Martin Fritz war es, der Grünefeld angesprochen hat. Die Vesperkirche war seine Idee gewesen. Er wollte „Menschen aus den unterschiedlichsten Armutsgruppen an einen Tisch“ bringen. So schreibt er es in seinem Buch „Brich den Hungrigen dein Brot“, das von den Anfängen der Vesperkirche in der Leonhardskirche erzählt.

Fritz hatte damals wohl lange für seine Idee geworben. Er war auch mit einigen Widerständen konfrontiert: „Sind neun Wochen nett sein zu Schwachen genug oder ist das eher eine Vorspiegelung falscher Tatsachen?“ Oder kritischer: „Zieht die Vesperkirche nicht Gesindel nach Stuttgart, auf das wir hier verzichten können?“ Fritz habe durchaus kämpfen müssen, um das Projekt zum Laufen zu bringen, erinnert sich Grünefeld. „Aber er hatte ein Talent, Spender anzuwerben.“

Natürlich löst die Vesperkirche das Armutsproblem nicht. Darin sind sich alle Helfer und Unterstützer einig. Aber sie macht auf Armut aufmerksam. Und hat noch einen anderen Wert: „Vesperkirche ist nicht nur Armenspeisung, sondern auch Gemeinschaft. Viele freuen sich darauf wie auf Weihnachten“, sagt Dekan Eckhart Schultz-Berg und verweist dann auf den Artikel 27 der Menschenrechte: Freiheit des Kulturlebens. „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen.“ Wer arm ist, ist aber oft von vorneherein ausgeschlossen, weil er sich eine Teilhabe gar nicht leisten kann.

Essen, Gespräche und medizinische Versorgung

Damit kommt Schultz-Berg auch zu der Frage, wie es in so einer „reichen Stadt wie Stuttgart eine Vesperkirche braucht“. Für ihn ist die Antwort klar: „Reiche Stadt – teure Stadt“. Man sehe das an den Mieten, den Preisen für Lebensmittel, den Preisen in Cafés und Restaurants. „Viele sind davon ausgeschlossen. Und denen geben wir nun einen Raum, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“, sagt er. „Denn das gehört zur Würde, die einem jeden Menschen zusteht.“

Die Vesperkirchensaison 2018/19 ist in Baden-Württemberg bereits gestartet. Mehr als 30 Vesperkirchen bieten seit Anfang November und noch bis Ende April „Sattwerden an Leib und Seele“, wie Landesbischof Frank Otfried July mitteilte. Die Veranstaltungen öffnen in der kalten Jahreszeit aber nicht nur für warme Mahlzeiten, sondern geben ihren Gästen auch Raum für Gespräche. In fast allen Vesperkirchen gibt es weitere Angebote: medizinische Grundversorgung, diakonische Beratung, Seelsorge, Gottesdienste, Friseure oder ein Kulturprogramm.

Was brauchen die Menschen? Seit 2017 gibt es das Format „Politiker hören zu“

In der Leonhardskirche gibt es seit dem vergangenen Jahr auch das Format „Politiker hören zu“. Die Diskussionsrunde mit Landes- und Kommunalpolitikern will man auch in diesem Jahr fortsetzen, sagt die Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann, die seit 2017 für die Vesperkirche verantwortlich ist. Auch wolle man in diesem Jahr die Gäste noch mehr einbeziehen und sie nach ihren Bedürfnissen befragen. Deshalb führe man die Umfrage „Gäste fragen Gäste“ durch, um Erkenntnisse zu erhalten, was man im nächsten Jahr besser machen kann. Umgesetzt habe man in diesem Jahr schon die Toilettensituation. Es gebe neue und die Putzzeiten wolle man verkürzen, kündigt Ehrmann an.

Zusätzlich gebe es in diesem Jahr einen Nachtschicht-Gottesdienst und einen muttersprachlichen Beauftragten, der sich besonders um die Gäste aus Osteuropa kümmere. Und anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums gibt es nun außerdem eine neue Wortmarke für die Vesperkirche, diese ist nun analog zum Kirchenkreislogo.

Rund 800 Ehrenamtliche und einige hauptamtliche Mitarbeiter der evangelischen Kirche werden sich in den sieben Wochen darum kümmern, dass alles reibungslos läuft. Das war bei der ersten Veranstaltung noch ganz anders: Da kamen vielleicht 50 Leute und es gab Maultaschen“, sagt Grünefeld. Heute kocht das Rudolf-Sophien-Stift täglich Essen für rund 800 Menschen. „Es ist ein großer Betrag, den wir für das Essen ausgeben“, sagt Ehrmann, „etwa 180 000 Euro.“ Dabei finanziert sich die Vesperkirche fast ausschließlich über Spenden. Das Mittagessen kostet seit 2017 auch nicht mehr fix 1,20 Euro, sondern wird nach dem Motto „Jeder gibt, soviel er kann“ ausgegeben.

25 Jahre Vesperkirche – nicht unbedingt ein gutes Zeichen für unsere Gesellschaft

25 Jahre Vesperkirche. Für Hans-Jürgen Grünefeld ist das nicht wirklich ein positives Zeichen, dass es die Vesperkirche schon so lange gibt: „Mir wäre es ja lieber, wenn wir die Vesperkirche nicht bräuchten.“ Die Not ist jedoch in all den Jahren nicht weniger geworden. „Unsere Gesellschaft müsste sich in der Hinsicht verändern, aber ich sehe da keinen Weg.“ Wenn es irgendwann die 50. Ausgabe der Vesperkirche geben würde, „dann wäre das kein gutes Zeichen“, sagt er abschließend.