Immer mehr Menschen in Deutschland verzichten auf Fleisch und Milchprodukte. Viele vegan lebende Eltern ernähren auch ihre Kinder so – doch das sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Kann die Ernährungsform für Kinder funktionieren?
Stuttgart/Ludwigsburg - Seit acht Jahren lebt Lisa, 30, vegan. Kein Fleisch, keine Milchprodukte, keinen Fisch – für die studierte Agrarwissenschaftlerin aus Ludwigsburg geht es dabei um die Tiere und die Umwelt gleichermaßen. „Ich bin auf die Zukunft meines Sohnes bedacht“, sagt sie, und die Ernährung spiele in Sachen Klimaschutz nun mal eine wichtige Rolle. Für Lisa war es daher keine Frage, dass auch ihr dreijähriger Sohn Paul vegan aufwächst. „Man kann viel falsch machen bei veganer Ernährung“, sagt sie, „aber es kann auch funktionieren.“
Wie Lisa verzichten immer mehr Menschen in Deutschland ganz auf tierische Produkte. Von 1,3 Millionen geht der Vegetarierbund aus, also rund 1,6 Prozent der Bevölkerung. Tendenz steigend. Doch ob es verantwortungsvoll, gesund oder überhaupt möglich ist, auch Kinder vegan aufzuziehen, darüber wird mitunter heftig debattiert. Und immer wieder erregen Meldungen über Fälle Aufsehen, wonach vegan ernährte Kinder schwerwiegende Mängel erlitten haben. Doch wie häufig sind solche Fälle – und wie riskant ist eine vegane Ernährung für Kinder tatsächlich?
Während eine ausgewogene vegetarische Kost heute weitgehend als gesund angesehen wird, raten viele Experten insbesondere bei Stillenden, Schwangeren, Säuglingen, Kindern und Jugendlichen klar von einer veganen Ernährung ab. Durch den hohen Anspruch an die Nährstoffversorgung in dieser Zeit bringe eine vegane Ernährung Risiken für Unterversorgung und Nährstoffmängel mit sich, heißt es etwa von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – vor allem, wenn keine angereicherten Lebensmittel oder Nährstoffpräparate verwendet werden.
Ernährungswissenschaftler warnen vor Schäden, die unumkehrbar sind
Je einseitiger die Ernährung, desto höher das Risiko für einen Mangel, warnt auch das Bundeszentrum für Ernährung. Durch die begrenzte Auswahl an Lebensmitteln bestehe bei Veganern die Gefahr, dass das Kleinkind zu wenig Vitamin B12 aufnehme. Auch die Zufuhr von Eiweiß, Eisen, mehrfach ungesättigten Fettsäuren, Kalzium oder Jod sowie weiterer Mikronährstoffe könne kritisch sein. Die Folgen im schlimmsten Fall: Störungen der Blutbildung, Wachstumsverzögerungen, mentale Schäden, die nicht wieder rückgängig zu machen sind.
Das sei nicht zwangsläufig so, sagt ein Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte im Land. In seltenen Fällen komme es dadurch aber zu gesundheitlichen Problemen – vor allem, wenn Nährstoffe nicht gezielt supplementiert würden. So sei ein B12-Mangel für eine stillende Mutter mitunter noch nicht bemerkbar, fehle aber bereits in der Muttermilch. Der sich entwickelnde Säugling bekomme dadurch als erstes Symptome. Das sei insbesondere deswegen tragisch, weil ja die Absichten hinter einer solchen Ernährungsform in der Regel sehr positiv seien, heißt es von dem Verband.
Auch Axel Enninger, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Stuttgart, stellt fest, dass spezifische Ernährungsformen – wie glutenfrei, laktosefrei oder vegan – zunehmend wichtiger werden. Vor allem Teenager würden sich immer häufiger für eine vegane Ernährung entscheiden, so seine Beobachtung. „Wenn bestimmte Nährstoffe zusätzlich aufgenommen werden, ist das okay.“ Problematisch findet er die Form aber für Säuglinge und Kleinkinder – auch wenn das in der Praxis selten sei. „Wenn jemand wirklich informiert ist, über Nährstoffe in Lebensmitteln Bescheid weiß und fehlende Stoffe durch Ergänzungsmittel ausgleicht, dann mag das schon gehen“, sagt Enninger. Für viele Familien sei das aber kaum machbar. „Empfehlenswert ist es deshalb nicht.“ Und noch einen Punkt findet Enninger schwierig: Dass Kinder durch diese Ernährungsform viele Einschränkungen erleben – und damit ein lockerer Umgang mit der Ernährung verloren gehe.
Eine neue Studie liefert Daten zur Versorgung von vegan ernährten Kindern
Doch wie häufig kommt es zu Mängeln – und zu welchen? Zahlenmäßig gehe es um ein sehr seltenes Problem, heißt es vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Daten zur Versorgung vegan ernährter Kinder und zu deren Gesundheit gibt es allerdings nur vereinzelt. Studien aus den 80er und 90er Jahren – unter anderem aus den USA und Großbritannien – zeigten bei vegan oder vegetarisch ernährten Kindern mitunter Energiedefizite, Wachstumsverzögerungen und teils niedrige Vitamin B12-Werte. Eine neuere Metastudie kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Untersuchungsgruppen meist zu klein sind, die Ergebnisse veraltet. Für die heutige Lebensrealität von Veganern sage das wenig aus.
Ganz neue Daten liefert die sogenannte VeChi-Studie. Dafür haben Forscher der Fachhochschule des Mittelstands, der Uni Bonn und des Instituts für alternative und nachhaltige Ernährung Daten von 430 Kindern zwischen ein und drei Jahren ausgewertet. Die Eltern protokollierten drei Tage lang genau, was gegessen wurde, notierten Körpergröße und Gewicht. Dann verglichen die Forscher die Daten der vegan, vegetarisch oder mit tierischen Produkten ernährten Kinder.
Das Endergebnis der Studie: Fünf von 139 veganen Kindern – knapp vier Prozent – sind kleiner als im Altersdurchschnitt, vier sind größer. Es könne also durchaus sein, dass vegan ernährte Kinder kleiner seien als andere gleichaltrige Kinder, sagen die Studienautoren. Signifikante Unterschiede zwischen den unterschiedlich ernährten Kindern zeigten sich im Endergebnis der Studie demnach aber nicht. Allerdings: Repräsentativ sind die Daten nicht. Diejenigen, die dem Aufruf zur Studienteilnahme gefolgt seien, sind vermutlich eher gesundheitsbewusst. Klar ist für die Forschenden aber trotzdem: Eine vegane Ernährung bei Kleinkindern könne mit Zusätzen etwa von B12 durchaus funktionieren. Immerhin habe sich der große Teil der teilnehmenden Kinder ganz normal entwickelt.
Zudem zeigt die Studie: Zu niedrigen Nährstoffwerten oder Mängeln durch eine unausgewogene Ernährung kommt es mitunter auch bei Kindern, die Fleisch und Milchprodukte zu sich nehmen. „In der Breite ist der ganz gewöhnliche Fast-Food-Wahnsinn gepaart mit innerem und äußerem Bewegungsmangel durch vermehrtes Sitzen vor Bildschirmen das eigentliche Gesundheitsproblem“, sagt auch ein Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. „Hieran gemessen lebt der typische Veganer meistens gesünder.“ Grundsätzlich empfehle man durchaus eine Ernährungsform, die reich an pflanzlichen Nährstoffquellen sei.
Wer die Eltern verurteilt, gebe das Thema ganz aus der Hand
Auch Lisa und Paul haben an der Ve-Chi-Studie teilgenommen – mit dem Ergebnis, dass der Junge ausreichend mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt sei. Überrascht hat Lisa das nicht: Auch der Kinderarzt habe bislang keine Probleme festgestellt, Paul sei überdurchschnittlich groß und weit entwickelt für sein Alter. Klar sei aber auch: Ohne die tägliche Vitamin-B12-Tablette und ohne eine sehr gute Kenntnis über die Nährstoffe in Lebensmitteln gehe es nicht. „Man muss bei jeder Ernährungsform gucken, dass es ausgewogen ist“, sagt Lisa. Auf den Teller kommen bei ihr deshalb: Vollkorngetreide, Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Samen und Nüsse. Es müsse bunt sein, sagt Lisa. „Gewisse Einschränkungen gibt es für Kinder doch immer.“
In der Debatte komme ein Aspekt oft zu kurz, findet Mathilde Kersting, die an der Universitätskinderklinik Bochum zu Kinderernährung forscht. Es sei „wichtig, auf die Familien zu hören, ihr Vertrauen zu gewinnen“. Vegane Ernährung sei bei Kindern vergleichbar mit einer medizinisch notwendigen Spezialdiät, bedingt etwa durch eine Stoffwechselkrankheit. Hier sei eine individuelle Behandlung mit Ernährungsberatung und ärztlicher Begleitung selbstverständlich – und ermögliche eine gesunde Entwicklung. Es sei nicht Aufgabe der Ärzte, die Eltern von den anerkannten Empfehlungen für die Kinderernährung zu überzeugen. „Das Thema wird weiter an Bedeutung gewinnen – und es ist wichtig, dass es in kinderärztlicher Hand bleibt.“ Würden die Eltern für die vegane Ernährung einfach verurteilt, könnten sie die Untersuchungen künftig ganz vermeiden.