Twitter-Chef Elon Musk ließ seine Nutzer abstimmen, ob gesperrte Accounts freigeschaltet werden sollen. Foto: dpa/Patrick Pleul

Auf Twitter hat Elon Musk seine Nutzer gefragt, ob gesperrte Accounts freigeschaltet werden sollen. Dabei zeigen Studien, dass in den sozialen Medien nur eine Minderheit die eigene Meinung äußert. Besonders aktiv: Verschwörungsmystiker und AfD-Unterstützer. Das kann gefährlich werden.

„Vox Populi, Vox Dei“ – die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes. Mit diesen Worten begründete Elon Musk vor Kurzem in einem Tweet, dass bislang gesperrte Twitter-Accounts wie der des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump freigeschaltet werden sollen. Am Tag zuvor hatte der neue Twitter-Chef die Nutzer der Plattform darüber abstimmen lassen.

Dass er nun die 72 Prozent der Stimmen, die „Ja“ zu einer Amnestie sagten, zur entscheidenden Instanz erhebt, passt zu Musks Vision eines basisdemokratischen Twitter. „Ein digitaler Marktplatz, auf dem die wichtigen Belange für die Zukunft der Menschheit debattiert werden“ solle das soziale Netzwerk sein, twitterte er einmal – eine Anspielung auf die direkte Demokratie im antiken Griechenland, in dem die Bürger im Stadtforum diskutierten und die Mehrheit entschied.

Das Problem: Die Meinungen, die in sozialen Netzwerken sichtbar sind, spiegeln kaum die Meinung der Mehrheit wider – nicht die der Mehrheit der Social-Media-Nutzer und erst recht nicht die öffentliche Meinung der Gesamtgesellschaft. Wer verstehen will, warum es gefährlich sein kann, wie Musk wichtige Entscheidungen einzig auf dem Meinungsklima in den sozialen Medien zu gründen, sollte sich ansehen, wer dort besonders aktiv ist und welche Meinungen sichtbar sind.

Verschwörungsmystiker kommentieren eher als zu schweigen

Nur die Hälfte der Deutschen ab 14 Jahren nutzt mindestens einmal pro Woche soziale Medien. Das zeigt die Online-Studie von ARD und ZDF. Das heißt nicht, dass die Meinung dieser Hälfte nicht die der Gesamtbevölkerung wiedergeben kann. Aber: Soziale Medien zu nutzen bedeutet nicht, dort auch die eigene Meinung zu Themen zu äußern – also beispielsweise an der Abstimmung von Musk teilzunehmen oder zu posten, warum eine Amnestie (k)eine gute Idee ist. Immerhin gibt es viele andere Möglichkeiten, seine Zeit in den sozialen Medien zu verbringen – etwa Nachrichten auszutauschen, Unpolitisches zu posten oder die Beiträge anderer zu lesen. Tatsächlich sind es lediglich zwölf Prozent der erwachsenen Internetnutzer, die regelmäßig Nachrichtenbeiträge liken und so öffentlich Zustimmung signalisieren.

Noch weniger Nutzer teilen oder kommentieren diese Beiträge. Solche aktiven User, die das Meinungsbild zu Nachrichten in den Kommentarspalten bestimmen, unterscheiden sich in ihren politischen Einstellungen von denen, die dort stumm bleiben. Menschen mit starker Präferenz für die AfD, solche, die an Verschwörungsmythen glauben, und jene, die den Medien feindselig gegenüberstehen, sind häufiger unter den Kommentierenden als unter den Schweigenden. Das ist ein Ergebnis der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen. „In der Tendenz haben wir es bei den Kommentierenden mit einer Gruppe zu tun, deren politische Einstellungen extremer sind als die der Gesellschaft“, sagt Professor Marc Ziegele von der Universität Düsseldorf, der die Studie mitentwickelt hat.

Professor Marc Ziegele forscht zu Nutzerkommentaren. Foto: privat

Obwohl die täglichen Kommentarschreiber als kleine Minderheit nur ein Prozent der Internetnutzer ausmachen – wenn in Deutschland in diesem Jahr rund 67 Millionen Menschen das Internet nutzen, sind das immer noch 670 000 Menschen. Angesichts dieser Meinungsflut kann ein Durchschnittsnutzer nicht alle Kommentare zu einem Thema lesen. Allein auf Twitter soll es laut Musk über die Fußballweltmeisterschaft in Katar zeitweise 20 000 neue Tweets pro Sekunde gegeben haben.

Weniger radikale Menschen verlassen Online-Diskussionen

Welche davon ein Nutzer sieht, hängt auch von Algorithmen ab. Sie legen fest, welche Beiträge und Kommentare oben stehen und von vielen Nutzern gesehen werden. Was solche Beiträge auszeichnet: eine hohe Interaktionsrate, also viele „Gefällt mir“-Angaben und Kommentare. Besonders viele solcher Reaktionen erhalten ausgerechnet respektlose und beleidigende Kommentare, stellte Ziegele fest: „Sie werden anderen also prominenter angezeigt.“

Ein Lichtblick: Auch sachliche Kommentare mit Argumenten werden oft gelikt. Sachlich laufen prominent angezeigte Debatten in den sozialen Medien laut Professorin Birgit Stark von der Universität Mainz aber selten ab: „Die Auseinandersetzungen sind oft emotional und verkürzt. Wer sichtbar ist, schreit meist laut“, fasst sie ihre Forschungsergebnisse zusammen. Diese Debattenkultur verschrecke Nutzer, die weniger radikal sind: „Menschen mit gemäßigten Meinungen, die neue Argumente einbringen könnten, verlassen diese Diskussionen.“ Zurück und sichtbar blieben die Schreihälse.

Professorin Birgit Stark von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz forscht zur Debattenkultur in sozialen Medien. Foto: privat

Bislang wird wenig diskutiert, dass die in den sozialen Medien prominent sichtbaren Meinungen kaum die öffentliche Meinung widerspiegeln. Das kann laut Ziegele dann gefährlich werden, wenn Menschen von den Meinungen einer lauten Minderheit im Internet rückschließen, was die Gesellschaft über ein Thema denkt. Wenn sie etwa aufgrund fremdenfeindlicher Kommentarspalten glauben, dass die Mehrheit der Deutschen Migranten ablehne. Denn Menschen bilden sich ihre Meinung auch in Auseinandersetzung mit dem, was andere denken.

Und: Sie sind laut Studien eher bereit, ihre Meinung zu vertreten, wenn sie glauben, dass die Mehrheit diese teilt. Wer dagegen annimmt, dass die meisten anderer Meinung sind, schweigt – aus Angst, ausgegrenzt zu werden. Deshalb sammeln Menschen Informationen darüber, was andere denken, erklärt Ziegele – in Gesprächen, indem sie ihre Umgebung beobachten, in der Berichterstattung der Medien und seit einigen Jahren auch, indem sie Meinungen im Internet lesen.

In der Umfrage von Musk schwieg die Mehrheit

Die Mehrheit der Studien deutet bislang nicht darauf hin, dass Menschen allein von Kommentaren im Internet unreflektiert auf das Stimmungsbild in der Gesellschaft schließen. Zwar lesen sie 40 Prozent von denen, die das Internet nutzen. Bislang ist das aber ein Indikator von vielen dafür, was andere denken. Auch wenn sich immer mehr junge Menschen hauptsächlich in den sozialen Netzwerken informieren – die meisten Deutschen nutzen mehrere Informationsquellen. „Seriöse Medien stellen das Meinungsklima differenzierter dar und sind ein Gegengewicht zu den verzerrten Debatten online“, sagt Stark.

Elon Musk will seine Twitter-Umfrage dagegen als einzigen Indikator dafür nehmen, was seine Nutzer denken. Mehr als 220 Millionen Menschen sind jeden Tag auf Twitter aktiv. Etwas mehr als drei Millionen haben abgestimmt. Auch dabei schwieg also die Mehrheit.