Bad Cannstatt ist einer der Standorte der Kinder- und Jugendpsychologie. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Versorgung psychisch kranker Kinder ist in Stuttgart schlechter als in allen anderen Großstädten bundesweit. Ärzte und Sozialarbeiter plädieren daher für den Ausbau ambulanter Hilfen – und für einen Klinikneubau.

Stuttgart - Vor den Haushaltsplanberatungen gehören Anträge auf Personalstellen zu den Regularien der Gemeinderatsausschüsse. Jüngst ging es im Gesundheits- und Sozialausschuss allerdings um eine Schnittstelle zwischen Medizin und Jugendhilfe, zwischen der Versorgung von kranken Eltern und von Kindern.

„Wenn ein Elternteil psychisch erkrankt, droht den Kindern die soziale Isolation. Sie haben Angst um Vater oder Mutter, sie wollen sich pflichtgemäß verhalten, sie haben Schuldgefühle. Viele wachsen ohne emotionalen Halt auf“, erläuterte der Ärztliche Direktor der Städtischen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Michael Günter. Wenn erkrankte Eltern nicht mehr verlässlich seien, übernähmen Kinder die Verantwortung. Zum Schutz der Eltern oder auch aus Scham würden die Kinder nicht nach außen dringen lassen, was sich innerhalb des Hauses abspielt.

Aufwachsen ohne emotionale Zuwendung

Das größte Problem sieht Michael Günter bei drogenabhängigen Eltern, die mit Methadon substituiert werden: „Das Mittel fährt die emotionale Verfügbarkeit auf unverantwortliche Weise herunter, was insbesondere für Kleinkinder schwere Auswirkungen hat.“ Kinder wüchsen „unter katastrophalen Verhältnissen“ in solchen Familien auf und würden schwerste sozio-emotionale Entwicklungsstörungen und Depressionen erleiden. Sie erhalten keine Hilfe, „denn nach außen hin scheint ja alles geordnet“, erklärt Michael Günter. „50 Prozent der psychisch kranken Kinder haben psychisch kranke Eltern.“ In Stuttgart seien jährlich circa 500 bis 1000 Kinder und Jugendliche davon betroffen, doch von allen Großstädten in der Bundesrepublik habe Stuttgart „die absolut schlechteste ambulante kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung“.

Für Ärzte ist Stuttgart unattraktiv

Nur vier niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater gebe es in der Stadt, „13 von 17 Kassensitzen sind besetzt, es kommt zu Wartezeiten bis zu einem Jahr, das ist unzumutbar“, so Günter. Acht Ärzte gebe es in der Region. Stuttgart sei für sie „unattraktiv“, denn wer eine Praxis eröffne, werde überrannt, sei bloß mit Diagnostik beschäftigt und komme wenig zum Behandeln. Die Hansestadt Hamburg mit mehr als 50 niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern oder Karlsruhe mit 40 Ärzten seien da attraktiver.

Um die betroffenen Kinder nicht sich selbst zu überlassen, wollen der Caritasverband, die Evangelische Gesellschaft und das Klinikum eine zusätzliche Personalstelle bei der Anlaufstelle Aufwind einrichten. Welche Hilfe für Familien die passende ist, welche Bezugspersonen für das Kind infrage kommen, das alles klären die Sozialarbeiter bei Aufwind. An sie können sich auch Fachleute aus anderen Beratungsstellen und Therapiezentren, aus Kitas, Schulen und auch Kinderärzte wenden. Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ist eng. Man hofft, so auch Familien zu erreichen, die zuvor nirgends Hilfe gesucht hatten. Zurzeit steht dafür nur eine Stelle zur Verfügung. Hilfen gibt es nur an einzelnen gemeindepsychiatrischen Zentren. Künftig will Aufwind seine Dienste flächendeckend anbieten. Der städtische Zuschuss dafür läge im kommenden Jahr bei rund 68 000 Euro, im Jahr 2019 dann bei 69 000 Euro.

Stadträte signalisieren Zustimmung

„Diese eine Stelle gleicht den Mangel nicht aus, aber wir erreichen Schritt für Schritt eine bessere Versorgung“, so Günter. Eine sichere und stabile häusliche Umgebung und verlässliche Beziehungen würden den Kindern Schutz und den erkrankten Eltern tragfähige menschliche Beziehungen bieten. Das Sozial- und Integrationsministerium hat diese Entwicklung ebenfalls als Ziel ausgegeben: „Die jugendpsychiatrischen Verbünde (JPV) sollen als feste Bestandteile der gemeindepsychiatrischen Verbünde besondere Bedeutung erhalten“, so die Pressestelle. In 200 bis 300 Fällen wurde Aufwind seit 2012 jährlich aktiv – „mit steigender Tendenz“, so Klaus Obert von Caritas. Vom Ausschuss bekam der Antrag auf eine weitere Stelle ungeteilte Zustimmung. Marita Gröger (SPD) regte allerdings an, man möge prüfen, ob der Bedarf flächendeckend bestehe oder ob man den Schwerpunkt abhängig vom Bedarf setzen sollte.

Wunsch: Ein Neubau

Zuletzt kredenzte Günter einen Magenbitter: „Auch die stationäre Versorgung in Stuttgart ist relativ schlecht.“ Das liege aber am Reglement der Krankenkassen. Trotzdem wolle er nicht von seinem „Lieblingsprojekt“ lassen: Am Klinikum eine Eltern-Kind-Station aufzubauen, am besten in einem Klinikneubau, der die bisher auf den Westen und Bad Cannstattverteilten Klinikstandorte an einem Ort zusammenführen könnte. „Das sind ungelegte Eier“, gab Günter zu, doch auf Wunsch des Gremiums wird das Thema abermals im Krankenhausausschuss behandelt. „Vielleicht können wir dort attraktivere Arbeitsbedingungen anbieten“, sagte Sozialbürgermeister Werner Wölfle. Die Personalentscheidung für die Anlaufstelle Aufwind fällt im Rahmen der Haushaltsplanberatungen.