Kurz nach dem Verschwinden von MH360: Über dem indischen Ozean suchen Flugzeuge nach dem Wrack der Malaysia-Airlines-Maschine Foto: dpa

Flug MH370 mit 239 Menschen an Bord verschwindet. Ein Jahr voll Leid und Wut liegt hinter den Angehörigen der Passagiere. Viele sind sich sicher, dass ihre Lieben noch leben. Flugunfall-Ermittler zermatern sich noch immer das Gehirn: Was passierte mit Flug MH370?

Peking/Kuala Lumpur - Das Leid für Zhang Yongli ist so groß, dass er es nur in kleinen Häppchen ertragen kann. Jeden Tag trägt der 64-Jährige seine Nachforschungen akribisch in seine Notizbücher ein. So kann er den Schmerz leichter ertragen. „Sonst würde ich verrückt werden“, sagt der Rentner.

Ein ganzes Jahr hat er in den Büchern festgehalten. Ein Jahr, in dem er vergeblich auf die Rückkehr seines Sohnes wartet. Der 32-Jährige saß in dem Flugzeug der Malaysia Airlines mit der Flugnummer MH370, das aus Kuala Lumpur kommend am 8. März 2014 auf dem Weg nach Peking verschwunden ist – spurlos.

Zhang nimmt sich ein Tablett in der Betriebskantine auf dem Flughafengelände. Er nickt der Bedienung zu, sie lächelt. Man kennt sich. Jeden Werktag ist Zhang hier, geht mittagessen und anschließend in die Beschwerdestelle der chinesischen Luftfahrtbehörden. „Wir müssen den Druck aufrechterhalten“, sagt er. Niemals dürfe die Suche nach den 239 Menschen, von denen 154 aus China und Taiwan stammen, aufgegeben werden, die mitsamt der Boeing 777-200 verschwunden sind. „Ich weiß, dass sie noch leben“, sagt Zhang.

Noch geht die Suche weiter

In der Beschwerdestelle wurde eigens ein Raum für die Angehörigen der Fluggäste von MH370 eingerichtet. Kaltes Neonlicht erhellt das schmucklose Zimmer. Vor den Fenstern sind Tische aufgebaut, an denen die Beamten Platz nehmen. Im Rest des Zimmers stehen etwa 30 Holzstühle. Das Büro ist meistens voll. Vor allem mittags. Geduldig hören sich die Mitarbeiter die Fragen der Angehörigen an. Ihre Antworten sind immer die gleichen: Malaysia koordiniert die Ermittlungen. China kann nur helfen. Noch geht die Suche weiter.

Für die 57-jährige Li Shuping ist die Suche nach ihrer Tochter zum Lebensinhalt geworden. Ihr einziges Kind war verlobt, als sie vergangenes Jahr für eine Dienstreise nach Malaysia flog. Das Hochzeitsdatum stand schon fest. Aber die 29-Jährige kehrte nicht mehr nach Peking zurück. „Mir will es einfach nicht in den Kopf, dass sich heute jedes Handy orten lässt. Aber eine riesige Boeing soll einfach verschwinden können? Da stimmt doch etwas nicht“, sagt Li.

Die Fluggesellschaft Malaysia Airlines bot ihr eine Entschädigung an. Li lehnte ab. „Mir geht es nicht um Geld. Ich will meine Tochter zurück.“ Ja, das Unternehmen habe den Angehörigen Geld in Aussicht gestellt, erzählt auch Zhang. „Aber niemand hat unterschrieben“, sagt er.

Alle Menschen an Bord wurden für tot erklärt

Die Juristen der Fluggesellschaft hätten sie im Gegenzug für die finanzielle Entschädigung dazu gedrängt, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem sie auf jegliche Ansprüche gegen die Fluggesellschaft verzichten. „Das war absolut inakzeptabel.“ Malaysia Airlines hatte hingegen stets betont, eine gute Regelung und ausreichende Entschädigungszahlungen für alle Angehörigen finden zu wollen.

Im Januar wollte der Staat Malaysia einen Schlussstrich unter das MH370-Desaster ziehen. Das Unglück wurde als Unfall eingestuft und alle Menschen an Bord für tot erklärt. Für viele Angehörige war das ein Affront. „Wie konnten sie das machen? Bis heute fehlen stichhaltige Beweise“, klagt Gan Mingsong. „Hier geht es um Menschenleben. Die kann man nicht einfach auf dem Papier auslöschen“, sagt der 75-Jährige. Sein 47 Jahre alter Sohn war an Bord der MH370. Er hat eine Frau und ein kleines Kind.

Li Shuping und viele andere Angehörige haben Angst, dass die Suche bald eingestellt werden könnte. Lange herrschte Chaos nach dem Verschwinden der Maschine vor einem Jahr. Jetzt vermuten die Suchmannschaften das Flugzeug im südlichen Indischen Ozean, Tausende Kilometer von der ursprünglichen Flugroute entfernt. Das Meer ist dort bis zu 6000 Meter tief.

Was ging da vor sich?

Doch was war genau passiert? Hunderte Ermittler testen seit fast einem Jahr Unglückstheorien, aber nichts ist plausibel. Deshalb rückt Pilot Zaharie Shah jetzt erneut in ihr Visier. Er ist 52 Jahre alt als er am 8. März vergangenen Jahres seinen letzten Flug antritt: MH 370. „Es ist eindeutig das größte Rätsel der Luftfahrtgeschichte“, sagt Malcolm Brenner. Er ist einer der erfahrensten Unfallermittler weltweit. Zu mysteriös für einen Unfall seien die Umstände, sagen auch andere Experten. Ein Cockpitkenner müsse die Maschine bewusst gelenkt haben.

So viel weiß man nach Auswertung von Satellitendaten: die Maschine flog noch rund sieben Stunden Richtung Süden. Die Experten gehen davon aus, dass sie im Indischen Ozean, rund 2000 Kilometer westlich der australischen Stadt Perth abstürzte, als das Benzin ausging. Die Australier koordinieren die Suche dort. Fast die Hälfte des 60 000 Quadratkilometer großen Gebietes ist abgesucht, aber von dem Wrack fehlt jede Spur.

Nach Meinung von Experten könnte folgendes passiert sein: Kapitän Zaharie schickt seinen Kopiloten aus dem Cockpit, schließt die Tür, setzt die Sauerstoffmaske auf, und lässt manuell den Druck in der Kabine fallen. Die Menschen können sich noch zwölf Minuten mit den Sauerstoffmasken retten, dann fallen sie ins Koma. Zaharie lenkt die Maschine an allen Radarpunkten vorbei Richtung Antarktis und schaltet dann auf Autopilot. Nur: warum will der Pilot sich und alle anderen umbringen?

Jörg Schlüter vom Raumfahrtinstitut der Nanyang-Universität in Singapur findet diese Theorie eher schwach. „Warum sollte er so weit fliegen, warum hat er die Maschine dann nicht gleich zum Absturz gebracht?“ Zaharie ist Vater von drei Kindern, hat ein Enkelkind. „Ich habe noch zwei, drei Tage vor dem 8. März mit ihm gesprochen, es gab kein Anzeichen, dass etwas nicht stimmte“, sagt ein Kollege.

Er werde die Hoffnung niemals aufgeben, sagt Zhang Yongli. „Ich komme immer und immer wieder zur Beschwerdestelle“, kündigt er an. Fast vier Notizbücher hat er schon vollgeschrieben. Alles will er festhalten: Welche Angehörigen zu der Beschwerdestelle kamen, welche Behördenvertreter sich den Fragen stellten und jede noch so kleine Information über das Vorankommen der Suchmannschaften. Er schreibe weiter, bis er Gewissheit über das Schicksal seines Sohnes habe, sagt Zhang. „Er muss noch leben. Ich weiß, dass er noch irgendwo da draußen ist.“