Großer Andrang im Arbeitsgericht: rund 70 Zuhörer sind gekommen, um zu verfolgen, ob einer Kliniken-Betriebsrätin und Pflegerin zu Recht gekündigt wurde. Foto: factum/Bach

Eine Pflegerin am Klinikum Ludwigsburg ignoriert drei Stunden lang den Alarm auf einer Überwachungsstation. Eine 80-jährige Patientin stirbt. Das Arbeitsgericht Stuttgart hält das für einen triftigen Kündigungsgrund – auch wenn die Pflegerin Betriebsrätin ist.

Ludwigsburg - Es ist stickig im großen Sitzungssaal des Arbeitsgerichts Stuttgart, Außenstelle Ludwigsburg. Rund 70 Zuhörer sind zur Verhandlung an diesem Dienstagmittag gekommen. Die meisten davon aus Solidarität mit Tina M. (Name geändert), einer Pflegerin am Klinikum Ludwigsburg, der Ende 2015 fristlos gekündigt wurde. M. ist Betriebsrätin, der Fall schlägt hohe Wellen der Empörung.

Doch was bei der rund anderthalbstündigen Verhandlung dargelegt wird, verschlägt manchem die Sprache. Stück für Stück wird ein völlig anderes Bild sichtbar als jenes der unbequemen Mitarbeitervertreterin, die von ihren Chefs geschasst werden soll. Es wird das Bild einer Pflegerin auf einer Überwachungsstation gezeichnet, die bis zu 40-mal den Alarm bei einer Patientin ignoriert oder wegdrückt und stattdessen ein Buch liest. Der Vorsitzende Richter ließ keinen Zweifel daran, dass er die fristlose Kündigung der Frau für rechtens hält.

Die Pflegerin ruft keinen Arzt

Grob wurde zuvor rekonstruiert, was in jener Nacht im November 2015 geschehen sein könnte. Um 20 Uhr übernimmt Tina M. die Nachtschicht auf der Intermediate Care Station am Klinikum Ludwigsburg – eine Station mit schwer kranken Patienten, die aber noch nicht auf die Intensivstation müssen. Bereits gegen 20.20 Uhr schlagen die Geräte Alarm: Bei einer 80-jährigen Patientin, die zuvor bereits zusammengebrochen war und überwacht werden muss, ist die Sauerstoffsättigung im Blut zu gering.

Was genau Tina M. in den nächsten drei Stunden tut, ist schwer zu klären. Klarer scheint, was sie nicht tut: Sie ruft keinen der beiden erreichbaren Ärzte zu Hilfe. Kolleginnen sagen später aus, sie hätten sie auf den Alarm angesprochen, doch M. habe genervt reagiert und gesagt, sie habe alles im Griff. Um 23.19 Uhr wird bei der 80-jährigen Patientin Herzstillstand diagnostiziert.Die Frau wird reanimiert und stirbt tags darauf. Die Geschäftsführung des Klinikums sieht in dem Verhalten der Pflegerin einen gravierenden Verstoß gegen ihre Aufsichtspflichten und kündigt ihr fristlos. Doch weil der Betriebsrat der Kündigung einer Kollegin in der Mitarbeitervertretung widerspricht (das ist üblich), kommt es zur Gerichtsverhandlung.

Betriebsrat sieht Kolleginnen in der Mitverantwortung

Der Anwalt von Tina M. konzentriert sich bei seiner Verteidigung auf vermeintliche Formfehler bei der fristlosen Kündigung. Zudem verweist er wiederholt auf eventuelle technische Mängel an den Überwachungsgeräten. Eine Nasensonde sei zur Überwachung des Sauerstoffgehalts im Blut nicht zuverlässig.

Der Anwalt des Kliniken-Betriebsrats hingegen fährt einen anderen Kurs. Er hebt darauf ab, dass die Kolleginnen – insbesondere eine Mitarbeiterin mit spezieller Fortbildung („dafür ist sie schließlich da“) – ebenfalls von den Alarmsignalen gewusst hätten, aber nicht eingeschritten seien.

Zudem passe der Vorfall in das Gesamtbild: allein 2015 seien 199 Überlastungsanzeigen von Mitarbeitern am Klinikum eingereicht worden – unter anderem wegen Problemen mit den Überwachungsgeräten.

Widerspruch und weitere Klagen möglich

Doch der Vorsitzende Richter verwies darauf, dass das nichts mit dem Fall der Tina M. zu tun habe. Zumal der Anwalt des Klinikums darlegte, dass ausgerechnet auf besagter Intermediate Care Station 2015 keine einzige Überlastungsanzeige geschrieben worden sei. Im Übrigen habe Tina M. in jener Nacht nur drei Patienten zu versorgen gehabt. Sie selbst hatte behauptet, es seien vier gewesen, konnte sich vor Gericht aber nicht mehr erinnern.

Das Gericht kam zum Schluss, dass Tina M. „es versäumt hat, ärztliches Personal zu rufen, nachdem Vitalzeichen der Patientin maschinell nicht überprüft werden konnten“, heißt es in einer Pressemitteilung. Durch das Urteil wird die Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung ersetzt. Tina M. kann Widerspruch einlegen und darüber hinaus noch eine reguläre Klage gegen die Kündigung einreichen.