Foto: Peter-Michael Petsch

Das Traditionsunternehmen schickt seine Bücher künftig nicht mehr selbst an die Kunden. Das kostet Jobs.

Ditzingen - Die Sonne hat den Schriftzug ausgebleicht. „Reclam“ steht in meterhohen Buchstaben auf dem Dach des grauen Verlagsgebäudes in Ditzingen. Ursprünglich war deren Farbe  Gelb – wie die der kleinen Heftchen, die den Verlag bei Schülern und Geisteswissenschaftlern berühmt gemacht haben. Und berüchtigt. Von außen also sieht es so aus, als ob die Zeit ungestört an dem Verlag nagen dürfte, der 1828 in Leipzig gegründet wurde. 1980 zogen Verlag und Druckerei nach Ditzingen.

Doch dieses Jahr stehen Veränderungen an. Eine davon trifft die Mitarbeiter besonders hart: Der Verlag wird seine Bücher künftig nicht mehr selbst an die Händler ausliefern. Die Aufgabe übernimmt künftig die Stuttgarter Verlagsauslieferung KNO VA. 19 von 82 Menschen werden dadurch ihren Arbeitsplatz verlieren.

„KNO VA ist viel besser in der Lage, sich den Ansprüchen der kleinen und großen Buchhändler anzupassen“, sagt Frank Rainer Max, Geschäftsführer des Verlags. Inmitten von Büchern sitzt er da in seinem Büro. Doch wer ihn fragt, wozu ihm aufgrund seines Jobs die Zeit fehlt, dem antwortet er: zum Lesen. Als der 63-Jährige damals im Bonn und in Köln Germanistik und Philosophie studiert hat, war dies seine Hauptbeschäftigung. Einen Lieblingsautor kann er nicht nennen, quer durch die Literatur hat er sich gelesen. Dass er einmal einen Verlag leiten würde, hat er nicht gedacht. Heute sieht er seine Aufgabe darin, der Literatur zu dienen. Das allein rechtfertigt für ihn die Auseinandersetzung mit unpoetischen Bilanzen und mit Problemen. Mit schwierigen Zeiten wie diesen, in denen Menschen ihren Arbeitsplatz bei Reclam verlieren.

„Um den Wünschen der Buchhändler gerecht zu werden, müsste Reclam EDV-technisch ständig um- und nachrüsten“, sagt Max. Dies lohne sich für eine große Auslieferung – nicht jedoch für einen einzelnen mittelständischen Verlag. Auf der Liste mit den 100 größten deutschen Verlagen liegt Reclam laut Buchreport auf Platz 85 (Vorjahr: 82). Im vergangenen Jahr lag der Umsatz bei 11,7 Millionen (2010: 11,9 Millionen).

2009 ist der Konzern in die roten Zahlen gerutscht

„Abgesehen von den Schulbuchverlagen geben immer mehr Unternehmen die Verlagsauslieferung ab“, sagt KNV-Chef Oliver Voerster. Für ihn sei Reclam als neuer Kunde interessant, weil der Verlag berechenbar ist. „Es gibt keine Ausschläge wie bei anderen Verlagen, bei denen es manchmal einen Beststeller gibt, dann aber auch mal wieder eine Durststrecke.“

Für die Mitarbeiter kratzt die Veränderung am Grundsatz des Unternehmens. „Die Auslagerung bedeutet einen Einschnitt in die Idee des Verlags“, sagt Betriebsratschef Frank Suppanz. „Bisher war Reclam ein Verlag, der alle Schritte der Buchproduktion abgedeckt hat“, sagt er. Dies gelte nun nicht mehr. Die Veränderung im Verlag trifft 16 Lagermitarbeiter und drei Verwaltungsangestellte. „Nur fünf von ihnen sind weniger als zehn Jahre im Unternehmen“, sagt Suppanz. „Eine Mitarbeiterin hat ihr ganzes Berufsleben bei Reclam verbracht.“ Zwischen 41 und 62 Jahre alt sind die Beschäftigten, deren Arbeitsplatz bei Reclam nun wegfällt.

Reclam bringt E-Books auf den Markt

Im Schwesterunternehmen des Verlags – dem Graphischen Betrieb – beschäftigt Reclam weitere 62 Menschen. Der Verlag sowie der Graphische Betrieb sind Töchter der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG.

2010 erwirtschaftete diese einen Jahresüberschuss von 900 000 Euro, während der Konzern 2009 mit 40 000 Euro in die roten Zahlen gerutscht war. Dies sei durch die wirtschaftlich schwierigen Bedingungen in der Druckbranche zu erklären, sagt Frank Rainer Max.

Der Graphische Betrieb übernimmt Druckarbeiten für den Reclam-Verlag, hat darüber hinaus aber einen eigenen Kundenstamm. Bei dem Verlag dagegen hielten sich die Umsätze stabil, sagt Max. Was der Trend hin zu den elektronischen Büchern – den sogenannten E-Books – für das Schwesterunternehmen bedeutet? „Darüber kann man ins Grübeln geraten“, sagt Max.

Dieses Jahr bringt Reclam zum ersten Mal E-Books auf den Markt

In diesem Jahr geht der Reclam-Verlag zum ersten Mal mit eigenen E-Books auf den Markt. Rund 150 Titel umfasst das elektronische Angebot zunächst. „Es soll sich in den kommenden Jahren stetig steigern“, sagt Max. Große Umsatzsprünge erhofft er sich dadurch in nächster Zeit nicht. „In Deutschland ist das E-Book noch nicht weit verbreitet“, sagt er, „anders als in den USA etwa.“ Laut dem deutschen Börsenverein bieten die Hälfte der Verlage E-Books an. 2011 lag der Anteil am Gesamtumsatz der Verlage durchschnittlich bei 6,2 Prozent (2010: 5,4 Prozent). Für 2015 erwarten die Verlage einen durchschnittlichen Umsatzanteil der E-Books am Gesamtumsatz ihres Unternehmens von 17 Prozent.

Am wichtigsten für den Umsatz des Reclam-Verlags sind immer noch die kleinen Heftchen, die es inzwischen in sechs verschiedenen Farben gibt. In der ältesten deutschen Taschenbuchreihe erscheinen unter anderem Klassikerausgaben und Lektüreschlüssel. „Sie machen drei Viertel des Umsatzes aus“, sagt Max. 24 Jahre sind die Hefte unverändert geblieben. Ihr Erscheinungsbild hat damals der Buchdesigner Hans Peter Willberg entworfen – es war die dritte Neugestaltung nach dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt hat Friedrich Forssman, ein Schüler Willbergs, einen neuen Umschlag gestaltet. Viel Raum für Veränderungen gibt es bei dem schlichten Erscheinungsbild der Bücher nicht: Autor und Titel sind künftig mit einem weißen Rechteck unterlegt – als ob ein weißes Schild auf dem Buchdeckel kleben würde. Umso erstaunter war Frank Rainer Max von den Reaktionen und von den kontroversen Diskussionen in den Internetforen, die auf die Veränderung folgten.

2012 also ist für Reclam das Jahr der kaum sichtbaren Veränderungen – mit umso größerer Wirkung. Vor allem für die Mitarbeiter, die vom 31. Juli an nicht mehr bei Reclam arbeiten werden.