Auslöser einer neuen Diskussion über die richtigen Strukturen für die Polizei. Foto: 7aktuell.de/Simon Adomat

Wegen langer Wartezeiten nach einem Unfall im Rems-Murr-Kreis steht die Organisation der Verkehrspolizei in der Kritik. Das Landesinnenministerium plant Veränderungen für die Zukunft – aber löst das die Probleme?

Stuttgart/Kernen – -

Wegen langer Wartezeiten nach einem Unfall im Rems-Murr-Kreis steht die Organisation der Verkehrspolizei in der Kritik. Das Landesinnenministerium plant Veränderungen für die Zukunft – aber löst das die Probleme?

Wie ist die Ausgangssituation?

Im Zuge der grün-roten, seit 2014 umgesetzten Polizeireform in Baden-Württemberg ist die Spezialisierung der Polizei vorangetrieben worden. Der damalige Innenminister Reinhold Gall (SPD) richtete eigenständige Einheiten für die Verkehrsunfallaufnahme ein. Diese kümmern sich seither um besonders schwere und komplexe Unfälle. Die Polizei vor Ort – eine Streife aus den Polizeirevieren – darf ebendiese derzeit nicht mehr aufnehmen. Sie muss, ebenso wie die Feuerwehr, auf die Spezialisten warten. Je nach Standort und Größe der zwölf regionalen Polizeipräsidien können die Anfahrtswege weit, die Wartezeiten lang sein. Wie im grün-schwarzen Koalitionsvertrag vereinbart, unterzog die Landesregierung die ganze Polizeireform einer Überprüfung. Experten empfahlen Korrekturen.

Was war der Vorschlag der Experten?

Sie schlugen unter anderem vor, die eigenständige Verkehrsunfallaufnahme auf dem Land wegen geringer Fallzahlen, weiter Anfahrtswege und damit verbundener Wartezeiten wieder abzuschaffen. Die rund 250 Beamte hätten demnach auf 121 Reviere verteilt werden sollen. Deren Streifen sind eh rund um die Uhr im Einsatz und als Erstes vor Ort, wenn der Bürger die 110 wählt. Nach polizeiinternen Einwänden entschied Innenminister Thomas Strobl (CDU) vergangenes Jahr, die Einheiten auf dem Land doch beizubehalten, deren Aufgaben aber neu zu ordnen.

Weshalb gibt es jetzt Aufregung?

Ausläser für die neuen Diskussionen ist ein Fall, der sich Mitte Dezember auf Höhe des Ortseingangs von Kernen-Rommelshausen (Rems-Murr-Kreis) ereignete. Ein 28 Jahre alter Mann raste gegen 23.10 Uhr mit einem Golf offenbar in Selbstmord-Absicht auf einen in einer Parkbucht stehenden Kipplaster. Ein Streifenwagen des Polizeireviers Fellbach war zwar schnell vor Ort, durfte den Unfall aber nicht aufnehmen, die Feuerwehr den toten Fahrer nicht bergen. Sie mussten auf die Spezialisten der Unfallaufnahme warten. Für den Rems-Murr-Kreis kommen diese derzeit nachts von der Verkehrspolizeidirektion der A6 bei Kirchberg an der Jagst. Die einfache Strecke von dort nach Rommelshausen beträgt mehr als 80 Kilometer. Bei der Feuerwehr in Kernen erzählen sie sich die Geschichte, dass man stundenlang habe warten müssen und die Verkehrsunfallaufnahme durch die Polizei erst gegen 4 Uhr morgens beendet gewesen sei.

Wie sind die politischen Reaktionen?

Der CDU-Landtagsabgeordnete für den Wahlkreis Waiblingen, Siegfried Lorek, hakt mit einer parlamentarischen Anfrage beim Ressort von Parteifreund Strobl kritisch nach. „Die teilweise langen Anfahrtszeiten der Verkehrsunfallaufnahme sind für die Bürger und Einsatzkräfte im Rems-Murr-Kreis unzumutbar“, sagt er. Der Vorfall zeige, dass Verbesserungen notwendig seien. Die Landtags-FDP kritisiert bereits seit Monaten, dass Strobl das Expertenvotum missachtet hat und die eigenständige Verkehrsunfallaufnahme im ländlichen Raum doch nicht zu Gunsten der Reviere abschafft.

Was sagt das Innenministerium zum Fall Rommelshausen?

Die Experten im Ministerium haben den Fall aufgearbeitet. Demnach sei die Fellbacher Streife um 23.18 Uhr am Unfallort eingetroffen. Um 23.40 Uhr sei der Leiter des Verkehrskommissariats in Backnang angerufen und gefragt worden, ob seine Leute sich in den Dienst versetzen und zum Unfall eilen können. Dies sei nicht mehr möglich gewesen. Die ohnehin im Nachtdienst befindliche Verkehrspolizei-Streife in Kirchberg an der Jagst sei erst danach – erst zehn Minuten nach Mitternacht – informiert worden und losgefahren. 54 Minuten später, um 1.04 Uhr, trafen sie an der Unfallstelle ein. Bis 1.38 Uhr nahmen sie den Unfall auf. Um 2.06 Uhr kam ein Bestatter an, um die Leiche abzuholen.

Gab es Pannen in dieser Nacht?

Ja, der für die Organisation der Polizei zuständige Referent im Innenministerium, Askin Bingöl, spricht von einer „multikausalen Informations- und Unterrichtungsfehlerkette“. Insbesondere das Führungs- und Lagezentrum des Polizeipräsidiums Aalen, das in solchen Fällen die Koordination übernimmt, habe „nicht gut reagiert“, kritisiert der Kriminaloberrat. Ihm zufolge hätte man die Spezialisten der Verkehrsunfallaufnahme aus Kirchberg an der Jagst spätestens nach der Erstintervention der Streife aus Fellbach auf den Weg nach Rommelshausen schicken müssen. Dann wären diese rund eine Stunde früher am Unfallort gewesen. Unklar bleibt, weshalb zunächst versucht wurde, Kräfte aus Backnang anzufordern. Das dortige Verkehrskommissariat (VK) nimmt schwerwiegendere Unfälle nur von 6 bis 22 Uhr auf. Es habe beim VK Backnang dem Regelfall entsprechend für diese Nacht auch keine Rufbereitschaft gegeben. „Der richtige Weg wäre gewesen, die Kollegen aus Kirchberg direkt anzufordern“, sagt Bingöl.

Wie oft gibt es Wartezeiten dieser Dauer?

Die durchschnittlichen Interventionszeiten, also die Dauer vom Erstkontakt bis zum Eintreffen der Unfallermittler betragen je nach Polizeipräsidium zwischen 33 und 52 Minuten. Rund 90 Prozent der Interventionen der Spezialisten finden von 6 bis 22 Uhr statt. Im Jahr 2018 gab es 410 Verkehrsunfälle mit getöteten Personen.

Wie geht es weiter?

Entgegen der Empfehlungen von EvaPol will das Innenministerium die spezialisierte Unfallermittler auch in ländlichen Gebieten aufrechterhalten. Es sei „ein Balanceakt“, insbesondere zu weniger unfallbelasteten Zeiten „Verkehrsspezialisten vorzuhalten“ sagt Bingöl. Aber deren qualitativ hochwertige Arbeit, die auch von Staatsanwaltschaften bestätigt werde, unterstreiche die Notwendigkeit einer Spezialisierung auch in der Zukunft. Wären diese Einheiten abgeschafft und wären sehr komplexe tödliche Unfälle als Aufgabe den Revieren zugeschlagen worden, hätte dies einen hohen Fortbildungsaufwand aller Beamten dort erfordert. Bei einer Personalverlagerung wäre außerdem nicht einmal ein Verkehrsexperte pro Dienstgruppe vertreten gewesen.

Was ändert sich?

Um nachts künftig etwas besser gerüstet zu sein, setzt das Ministerium auf Veränderungen innerhalb der Verkehrspolizei: Vom 1. Januar 2020 an sollen die bisherigen Verkehrspolizeidirektionen und Verkehrskommissariate in sogenannte Verkehrspolizeiinspektionen mit Verkehrsdiensten in der Fläche überführt, die derzeit meist getrennten Gruppen von Verkehrsüberwachung und -unfallaufnahme zusammengelegt werden. Laut Bingöl bedeutet dies: es gibt schlankere Strukturen und durch die Vorgabe einer Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit der Verkehrsdienste mehr Unfall-Spezialisten – auch für nachts. Streifen der Reviere sollen tödliche Unfälle ohne komplexe Spurenlagen künftig zudem selbst aufnehmen dürfen – zum Beispiel, wenn ein Fahrer wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen ist. Im Gegenzug sollen die Verkehrseinheiten, wenn es gerade keine komplexen Unfälle zu bearbeiten gibt, die Polizeireviere bei allgemeinpolizeilichen Aufgaben unterstützen.

Was bedeutet das für den Rems-Murr-Kreis?

Anders als die Verkehrskommissariate (6 bis 22 Uhr) sollen die ab 2020 neuen Verkehrsdienste rund um die Uhr verfügbar sein. Die Standorte bleiben weitestgehend gleich, Backnang und Aalen gehen in einem Verkehrsdienst auf. Sie sollen künftig im Wechsel eine Nacht-Streife stellen. Das bedeutet für einen üblen Crash mit mehreren Toten in Randgebieten des Polizeipräsidiums Aalen, etwa in Fellbach: unter Umständen gibt es auch in Zukunft lange Anfahrtswege für Unfallermittler – dann aus Aalen statt aus Kirchberg an der Jagst. Gleichwohl müsse man berücksichtigen, dass künftig die Polizeireviere selbst viele Unfälle mit geringer Spurenkomplexität aufnehmen können, so Bingöl.