Auch im zweiten Pandemiejahr ist die Zahl der getöteten Verkehrsteilnehmer in Stuttgart und der Region weiter auf niedrigem Niveau – doch es gibt bedenkliche Ausnahmen.
Stuttgart - Der 40-Jährige auf seinem E-Bike hat keine Chance, als der Betonmischer vor ihm plötzlich rückwärtsfährt. Wer wie welchen Weg genommen hat, welcher Blickwinkel, welche Lichtverhältnisse an diesem Donnerstagmorgen herrschten – das alles wertet ein Sachverständiger aus. Das Unglück in Weilimdorf war der letzte tödliche Verkehrsunfall des vergangenen Jahres in Stuttgart. Überproportional häufig sind dabei Zweiradfahrer betroffen gewesen.
Vision Zero – binnen zehn Jahren soll es 40 Prozent weniger Verkehrsunfalltote geben: Dies ist das erklärte Ziel des Landesinnenministeriums, das die Polizei deshalb zu verstärkten Überwachungsmaßnahmen aufruft. Ein hoher Kontrolldruck sei unabdingbar, um Leben zu retten, so das Motto. Das mit dem Rückgang hat im ersten Anlauf zwischen 2010 und 2019 nicht geklappt. Deshalb geht es nun bis 2029 in die Verlängerung. Der Maßstab für das Land sind dabei 437 Unfallopfer des Jahres 2019.
Alles anders im zweiten Pandemiejahr?
Das Pandemiejahr 2020 brachte einen unverhofften Nebeneffekt. Homeoffice, Lockdown und Ausgangsbeschränkungen sorgten bundes- wie landesweit für weniger Verkehr auf den Straßen, für weniger Unfälle und für die niedrigste Zahl der Verkehrstoten überhaupt. 330 Menschen kamen auf den Straßen im Südwesten ums Leben. Im zweiten Pandemiejahr 2021 kehrten Verkehrsmengen und Staus wieder zurück. Auch mit Folgen für die Zahl der tödlich verletzten Unfallopfer?
Das Innenministerium lässt die Frage offen: „Die Unfallstatistik für das Land ist noch in Bearbeitung und wird Ende Februar vorgestellt“, sagt Ministeriumssprecher Renato Gigliotti. Der Blick in die Unfalldatenbanken unserer Zeitung zeigt indes: Das Niveau der Unfalltotenzahlen im Südwesten entspricht 2021 fast wieder dem von 2020 – trotz acht Prozent mehr Verkehr auf Autobahnen und zwei Prozent mehr auf Bundesstraßen. Einen ebenfalls nur leichten Anstieg hat es in der Region Stuttgart gegeben – von 45 auf 47 Getötete. Doch auch das ist noch erheblich weniger als die 65 Opfer im Jahr 2019. Freilich gibt es in der Stadt und den Landkreisen erhebliche Unterschiede.
Weniger Unfallopfer in Stuttgart
Zunächst eine gute Nachricht: In Stuttgart ist die Zahl von sieben auf nur noch fünf Unfalltote gesunken. Kein Autofahrer, kein Motorradfahrer betroffen. Bei zwei tödlichen Pkw-Unfällen in Plieningen und Hedelfingen stellten sich hinterher medizinische Ursachen heraus. Die Bilanz wird dennoch getrübt: Außer einem Fußgänger waren vier der fünf Getöteten Zweiradfahrer, mit und ohne Elektroantrieb. Zuletzt der 40-Jährige, der am 4. November in der Flachter Straße in Weilimdorf bei einem Unfall mit einem Betonmischer ums Leben kam.
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Der Lkw-Fahrer hatte sich offenbar auf der falschen Spur eingeordnet, rangierte rückwärts – und erfasste dabei den E-Biker hinter ihm. Am 9. September wurde eine 56-jährige Pedelec-Fahrerin in der Rüdigerstraße in Feuerbach von einem 50-jährigen Autofahrer in einer abknickenden Vorfahrt übersehen. Am 2. September stürzte ein 61-Jähriger mit seinem Elektrofahrrad beim Abbiegen in der Bergheimer Straße in Weilimdorf. Am 9. Mai wollte ein 57-Jähriger mit seinem Liegefahrrad den Bruckwiesenweg in Untertürkheim überqueren, wohl bei Rot, und kollidierte mit einem Auto.
Was Prävention von Radunfällen schwer macht
Dass Zweiradfahrer im toten Winkel, an Kreuzungen übersehen und ohne ausreichenden Abstand überholt werden oder oft aber auch selbst die Ursache setzen – das hat die Stuttgarter Polizei durchaus im Blick. „Allerdings sind die Ursachen der Radunfälle sehr heterogen, sehr unterschiedlich“, sagt Polizeisprecher Allen Bühler. Präventionsmaßnahmen seien sehr schwierig, „wenn es keinen richtigen Schwerpunkt gibt“.
Offensichtlich das Problem einer Großstadt – und einer immens gestiegenen Zahl von Radelnden. 4,9 Millionen Fahrten wurden 2021 allein an den 15 Zählstellen in der Stadt registriert, 2020 waren es 3,7 Millionen. Der Trend auf Landesebene ist zumindest bis Herbst 2021 eindeutig: Weniger Unfälle, weniger Verletzte – dafür mehr getötete Radfahrer. Bei Pedelecs beträgt die Steigerung fast 30 Prozent.
Ein Landkreis völlig gegen den Trend
Der Landkreis Ludwigsburg hat ein ganz anderes Problem. Zwar kamen auch dort, in Sachsenheim und in Sersheim, zwei 13 und 91 Jahre alte Radfahrer ums Leben. Die Zahl der Unfalltoten insgesamt ist aber von acht auf 14 deutlich gestiegen. Das ist fast so viel wie im Jahr 2020 die 15 Opfer in den Kreisen Ludwigsburg, Böblingen und den zugehörigen Autobahnabschnitten zusammen.
Dagegen ging im Kreis Esslingen die Zahl der Unfalltoten von neun auf sieben zurück. Im Rems-Murr-Kreis gar von sieben auf drei. Doch immer stecken hinter den Zahlen Schicksale. Etwa das Leid einer Familie in Backnang. Ihr Kind hatte mit seinem Fahrrad einen Zebrastreifen überquert und war von einem Autofahrer erfasst worden. Der Bub wurde nur sieben Jahre alt.