Nicht immer eitel Sonnenschein, wenn es um die Frage geht: Wer hat Vorfahrt? Auto oder Fahrrad? Foto: Roberto Bulgrin

Esslingen gibt Millionen aus, um eine bessere Infrastruktur für Fahrradfahrer zu schaffen. Johannes M. Fischer geht in seinem Kommentar der Frage nach: Gerät die Verkehrsentwicklung aus der Balance?

Esslingen - Der Widerspruch, in dem sich die verschiedenen Verkehrsteilnehmer befinden, lässt sich nicht auflösen. So schön die Empfehlungen auch sind, man solle doch einfach mal in den Schuhen des anderen laufen, dann werde man schon sehen – es funktioniert nicht: Sobald der Autofahrer aufs Rad steigt, schimpft er auf Autofahrer, und wenn er zu Fuß geht, geht es gegen Radfahrer. Die Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel kommen auch noch dazu: Auch sie vertreten berechtigte Interessen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sich das multiple Drama zuweilen in einer einzigen Person abspielt.

Ohne Zweifel steht eine Stadt wie Esslingen an einem Wendepunkt. Die Zahl der Radfahrer steigt rapide. Und mit den Möglichkeiten des Elektromotors sind auch die zahlreichen Steigungen kein Hinderungsgrund mehr, vom Verbrennungsmotor auf Strom oder sogar Öko-Strom umzusteigen. Den Radfahrern muss mehr Raum gegeben werden, doch je mehr Raum sie bekommen, umso mehr werden es voraussichtlich, die noch mehr Raum einfordern. Denn umgekehrt vermiest jeder Eingriff das Autofahren, sodass sich – so die Hoffnung von Fahrrad- und Umweltverbänden auf der einen und der Horror aller Autofreunde auf der anderen Seite – der eine oder andere künftig überlegt, ob er lieber im Stau stehen will oder doch aufs Zweirad umsattelt.

Entwicklung ist aber immer auch ein Balanceakt

Sehr viele Menschen sind auf den Individualverkehr angewiesen. Das betrifft in erster Linie die Arbeitswelt. Und die soziale: Nicht jede Strecke lässt sich erlaufen, nicht jeder ist imstande, mit dem Fahrrad sein Ziel zu erreichen. Kranke, Alte, Menschen mit Handicap – die Liste derer ist lang, die in bestimmten Situationen auf ein Auto angewiesen sind. Auch der Bus ist nicht immer eine Alternative. Hinzu kommen alle Lieferanten, ohne die gar nichts mehr gehen würde. Und schließlich: Es ist auch erlaubt, Spaß am Auto zu haben.

Im Anbetracht des Klimawandels wird die Kunst also darin bestehen, die Infrastruktur Schritt für Schritt zu verändern. Ein Schritt zu viel kann zusätzliches Verkehrschaos und kollektive Unzufriedenheit produzieren. Ein Schritt zu wenig – dasselbe. Wie gesagt: ein Balanceakt. Auch nach dem Entschluss, nach einer gewissen Verzögerung mal ein paar Schritte mehr zu nehmen, macht Esslingen noch nicht den Eindruck, die Balance zu verlieren.