Senior am Steuer: der 90-jährige Taxifahrer Iwao Kamiyama. Foto: Felix Lill

Im alternden Japan werden die Senioren zunehmend zum Verkehrsrisiko. Die Regierung bemüht sich um Lösungen, aber das Problem wird immer drängender.

Tokio - Wohin fahren wir?“, fragt der Herr am Steuer. „Shibuya? Kenn ich!“ Die Adresse müsse man aber in diesen Computer neben seinem Lenkrad eingeben. „Der erklärt uns die beste Route. Wir halten da vorne kurz an, dann machen wir das.“ Er steuert den Standstreifen an und lässt sich den Zielort vom Fahrgast ins Navigationssystem eingeben. „So, jetzt folgen wir einfach der gelben Linie auf dem Bildschirm!“ Los geht’s.

Iwao Kamiyamas laute Stimme füllt den Innenraum. „Ich höre nicht mehr so gut“, erklärt er. „Ich bin schon 90!“ Damit sei er zwar der älteste Fahrer der Taxiflotte, für die er arbeitet. „Aber die meisten bei uns sind schon über 70.“ Grund zur Sorge sei das keiner. „Die Reaktionszeiten werden nur ein bisschen langsamer im Alter. Vorsichtig fahren muss ja aber jeder, auch junge Menschen.“ Autofahren verlernt man schließlich nicht. Oder doch?

In Japan wird diese Lebensweisheit zusehends hinterfragt. Der beispiellose demografische Wandel im Land, angetrieben durch geringe Geburtenraten und eine steigende Lebenserwartung, hat den Bevölkerungsanteil der Menschen über 75 auf 14 Prozent hochgetrieben. Bis 2050 werden sie voraussichtlich ein Viertel ausmachen. Für den Straßenverkehr ist das relevant, weil alte Menschen besonders häufig in Unfälle verwickelt sind. Generell gilt die Tendenz: Je älter die Person am Steuer ist, desto gefährlicher wird sie für die Umwelt.

Die Zahl der tödlichen Unfälle mit Senioren erreicht einen Rekordwert

Zwar waren Japans Straßen 2018, gemessen an tödlichen Verkehrsunfällen, so sicher wie seit 1948 nicht mehr, als noch wesentlich weniger Autos fuhren. Aber die Zahl der Todesfälle, in die Fahrer im Alter von mindestens 75 Jahren involviert waren, erreichte mit 460 einen Rekordwert. An 15 Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle waren Senioren beteiligt. Besonders häufig verwechseln die Fahrer das Brems- mit dem Gaspedal. Vor allem in Situationen, die schnelles Handeln erfordern, wird dies zur Gefahr.

Unfälle geraten zusehends in die Schlagzeilen. Im Juni sorgte im südwestjapanischen Fukuoka ein 81-Jähriger für Aufsehen, nachdem er in mehrere Autos gerast war. Dabei starben er und seine Frau. Zwei Monate zuvor in Ikebukuro, einem Bezirk in Nordtokio, verlor ein 87-Jähriger die Kontrolle über sein Fahrzeug, rammte mehrere Fußgänger. Eine Frau sowie deren Tochter starben. Der Fahrer war einst Topbürokrat, was in der Öffentlichkeit zur Nachdenklichkeit beigetragen hat: Wie gut können Menschen im Alter ihre Fertigkeiten am Steuer beurteilen?

In den vergangenen Jahren hat Japans Regierung verpflichtende Tests für 70-Jährige eingeführt, auch wenn dabei keine Fahrprüfungen stattfinden, sondern nur kognitive Tests. Wer aber mit Demenz diagnostiziert wird, dem kann der Führerschein auch abgenommen werden. Derzeit überlegt die Politik zudem, für Fahrer ab 75 nur noch Autos mit automatischen Bremsen und weiteren Sicherheitssystemen zuzulassen. Auch sollen öffentliche Fahrdienste ausgebaut sowie in Zukunft völlig autonome Autos speziell auf Senioren eingestellt werden. Und die Ämter bitten ältere Bürger ausdrücklich, ihre Führerscheine freiwillig abzugeben. Angesichts so umfassender Überlegungen nimmt Japan, der globale Pionier demografischer Alterung, auch im Umgang mit den Altersproblemen auf den Straßen eine Führungsrolle ein.

Allein 2018 gaben 290 000 Senioren ihren Führerschein freiwillig ab

Im letzten Jahr gaben landesweit insgesamt 290 000 Senioren ihren Führerschein ab, dreimal so viele wie noch fünf Jahre zuvor. Japanische Medien berichteten zudem, dass der tödliche Unfall des 87-Jährigen im April im Norden Tokios eine neue Welle freiwilliger Rückgaben provoziert habe. Die Maßnahmen der Regierung zeigen also Wirkung. Aber reicht das, um das wachsende Problem in den Griff zu bekommen, zumal die absolute Zahl von Senioren von Jahr zu Jahr zunimmt?

Zumal es diejenigen gibt, die nur mit dem Autofahren ihre schmale Rente aufbessern können. Zu ihnen gehört Iwao Kamiyama. „Ich bin seit 50 Jahren Taxifahrer. Aber aufzuhören, könnte ich mir nicht leisten. Meine Rente reicht für meine Frau und mich zum Leben kaum aus.“ Also fährt er weiter. Und der Taxiunternehmer, bei dem er zweimal die Woche ins Auto steigt, sei froh drüber. Es mangele nämlich auch dort an Nachwuchs.

Die Autofahrt mit Iwao Kamiyama endet ohne Zusammenprall, dafür mit 20-minütiger Verlängerung. Kurz vorm letzten Halt sagt er zufrieden: „So, hier ist das Ende der gelben Linie. Wir müssten da sein!“ Was er offenbar nicht bemerkt hat: nach jedem falschen Abbiegen berechnet sein Computer die Route neu. Jedes Mal gekennzeichnet durch eine gelbe Linie.