Durch die Änderung kann nicht mehr jeder Sieger in einem Wahlkreis sicher sein, dass er auch in den Bundestag einziehen wird. Das oberste Gericht prüft nun, ob das in Ordnung ist.
Mit Vorwürfen und Empörung hat am Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht die Verhandlung über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition begonnen. Von einem „fundamentalen Verstoß gegen Grundsätze unserer Verfassung“ sprach CDU-Chef Friedrich Merz. Der Linken-Politiker Gregor Gysi äußerte den Verdacht, dass eine Bundestagsmehrheit ihre Mehrheit missbraucht habe, „um die Möglichkeit zu schaffen, zwei Parteien aus dem Bundestag zu drängen“. Gysi meinte damit seine eigene Partei und die CSU. Beide könnten von der im vergangenen Jahr vom Parlament beschlossenen Reform besonders betroffen sein. Die wichtigsten Fragen zum Thema.
Warum gibt es überhaupt eine Reform? Darüber wenigstens waren sich alle Parteien einig: Mit heute 736 Abgeordneten (nach der Wahl 2021, inzwischen ist die Zahl der Abgeordneten auf 734 gesunken) ist der Deutsche Bundestag für ein Land mit 85 Millionen Einwohner viel zu groß. Das EU-Parlament kommt für eine Bevölkerung von 448 Millionen mit 705 Parlamentariern aus, das US-Repräsentantenhaus mit 435 Volksvertretern bei 333 Millionen Bürgern. Und der Bundestag wächst unaufhörlich. Dem Parlament gehörten nach den Bundestagswahlen 2013 noch 631 Abgeordnete an. Nach der Wahl 2017 stieg die Zahl bereits auf 709 an. Jede Vergrößerung bedeutet neue Anbauten, neue Personalkosten, neue Bürokratie.
Wie kommt es zu diesem Wachstum? Das ist eine Folge unseres Zwei-Stimmen-Wahlrechts. Die Zweitstimme bestimmt das politische Kräfteverhältnis im Parlament. Die Erststimme entscheidet darüber, wer direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises wird. Es kann also vorkommen, dass eine Partei mehr Direktkandidaten als Wahlkreissieger in den Bundestag schickt, als ihr über die Zweitstimme zustehen. Das nennt man Überhangmandate. Damit der Bundestag aber das Kräfteverhältnis der Zweitstimmen fair abbildet, gibt es dann für die anderen Parteien Ausgleichsmandate. Das ist ein ziemlich kompliziertes Rechenspiel. Da die beiden großen Parteien Union und SPD immer mehr schrumpfen, aber doch noch stark genug sind, viele Wahlkreise direkt zu gewinnen, wird das Missverhältnis zwischen Erst- und Zweitstimmen immer größer. Nach der Bundestagswahl 2021 gab es 34 Überhang- und 104 Ausgleichsmandate.
Was ist die Lösung der Ampel? Die Ampel hat zu einer drastischen Maßnahme gegriffen. Sie legt die Zahl der Abgeordneten auf 630 fest und schafft Überhang- und Ausgleichsmandate ab. Das hat zur Folge, dass nicht mehr jeder Wahlkreissieger sicher ins Parlament einzieht. Gibt es mehr siegreiche Direktkandidaten einer Partei als ihr nach Zweitstimmenergebnis zustehen, kommt der Kandidat oder die Kandidatin zuerst zum Zuge, die das höchste Erststimmenergebnis eingefahren hat und so weiter. Knappe Sieger haben also schlechtere Chancen. Abgeschafft hat die Ampel auch die Grundmandatsklausel. Die legte bisher fest, dass eine Partei, die an der 5-Prozent-Hürde scheiterte, aber immerhin drei Wahlkreise eroberte, doch in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einziehen konnte. 2021 hat die Linkspartei zum Beispiel von dieser Möglichkeit profitiert.
Wo ist das Problem dieses Weges? Das größte Problem besteht darin, dass nicht mehr jeder im Wahlkreis direkt gewählte Bewerber sicher in den Bundestag einziehen wird. Er oder sie hätte nicht nur vergeblich Wahlkampf gemacht, sondern die Wähler hätten de facto eine Erststimme abgegeben, die keinerlei Wirkung erzielt. Ist damit der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt? Der besagt, dass jede Stimme gleich viel zählt. In manchen Wahlkreisen würde aber wenigstens die Erststimme womöglich gar nicht zählen, da der Sieger leer ausgeht. Das vor allem hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen.
Welche Parteien wären besonders betroffen? Am härtesten wäre wohl die CSU tangiert. Sie tritt nur in Bayern an und pflegt ihre Wahlkreise zu gewinnen, 2021 holte sie 45 der 46 Direktmandate. Ihr Zweitstimmenanteil im gesamten Bundesgebiet lag aber nur bei 5,2 Prozent. Viele Wahlkreissieger würden also demnächst nicht mehr zum Zuge kommen. Von der Grundmandatsklausel ist die ums Überleben kämpfende Linkspartei unmittelbar betroffen.
Wer klagt in Karlsruhe? Neben der bayerische Staatsregierung, der Unionsfraktion im Bundestag und der Partei Die Linke klagen auch über 4000 Privatpersonen, vertreten vom Verein „Mehr Demokratie“.