Gisèle P. wünscht eine öffentliche Verhandlung, „eine komplette, eine totale Öffentlichkeit“, sagt sie. Foto: AFP/Christophe Simon

Sie wurde jahrelang von ihrem Ehemann betäubt, der sie dann von fremden Männern vergewaltigen ließ. Jetzt ergriff im Gerichtssaal in Avignon Gisèle P. erstmals das Wort.

Es ist ein monströser Fall, der in Avignon verhandelt wird: 51 Angeklagte sollen Gisèle P. zwischen 2011 und 2020 reihenweise und teils mehrfach vergewaltigt haben. Das Opfer merkte nichts, da es vom Ehemann Dominique P. mit starken Schlafmitteln betäubt worden war. Am Donnerstag ergriff Gisèle P. erstmals das Wort.

Die 72-Jährige lässt sich von der massiven Präsenz der Angeklagten nicht einschüchtern. In leuchtendes Weiss und Rot gekleidet, als wolle sie die Düsterkeit vertreiben, erzählt sie, wie ihr das Unfassbare erst Jahre später bewusst geworden war. 2020 erhielt sie einen Anruf von der Polizei. Auf der Wache teilte man ihr mit, ihr Mann sei erwischt worden, wie er im Einkaufszentrum Frauen unter den Röcken gefilmt habe. Ihr Gatte habe ihr darauf bekannt, er habe eine „Dummheit“ begangen, erzählt sie vor Gericht; sie habe ihm verziehen, aber gewünscht, dass er eine Psychotherapie beginne.

Für die Frau stürzte eine Welt ein

Von den Vergewaltigungen wusste Gisèle P. noch nichts. Doch dann fand die Polizei – „sie hat mir das Leben gerettet“, sagt Gisèle P. heute – auf dem Handy von Dominique P. die schrecklichen Bilder, wie seine Frau unbeweglich auf ihrem Bett liegt, während sich zahllose Männer an ihr vergehen. „Da stürzte für mich die Welt ein. Alles, was ich 50 Jahre lang aufgebaut hatte, brach zusammen.“ Ihr Mann, den sie für einen „guten Kerl“ gehalten hatte, hatte sie jahrelang betäubt und an Teilnehmer einer Swinger-Webseite weitergereicht.

Gisèle P. stellt klar: Was ihr die Polizisten gezeigt hätten, seien „Szenen der Barbarei“. Zu den Männern, die zu Prozessbeginn erklärt hatten, sie seien von einem einvernehmlichen „Sexspiel“ ausgegangen, sagt sie: „Man soll mir bloß nicht von Sex sprechen. Das war Vergewaltigung. Ich habe nie Dreiersex oder Partnertausch betrieben. Ich wollte nie, dass mich jemand anderer als mein Mann berührt.“

Gisèle P. wünscht eine totale Öffentlichkeit

In den sozialen Medien gibt es Stimmen, die es für unglaubwürdig halten, dass das Opfer zehn Jahre lang nichts gemerkt haben will. Diese Frage ist zentral für das Strafmaß und wird in dem Prozess später noch ausführlicher behandelt werden. Am Donnerstag sagt Gisèle P., sie habe nie etwas geahnt und „keine Erinnerung“ an diese Szenen. Zweifellos wegen der Beruhigungsmittel habe sie hingegen starke Ausfallerscheinungen gehabt. Sie habe befürchtet, dass sie an Alzheimer leide. Seit 2020 – als die Machenschaften ihres Mannes aufflogen – habe sie keine Erinnerungsprobleme mehr.

Gisèle P. dankt ihrer Tochter Caroline, die sich dem Kampf gegen die „soumission chimique“ (chemische Unterjochung) widmet, wie man in Frankreich die Betäubung von Missbrauchsopfern nennt. Gisèle P. wünscht deshalb die Öffentlichkeit der Verhandlung. „Eine komplette, eine totale Öffentlichkeit“, präzisiert sie. Noch einen Grund nennt die Zeugin mit klarer Stimme, wie die Berichterstatter aus dem Prozessgebäude melden: Sie wolle sich nicht verstecken. „Ich habe mich nicht zu schämen. Das Schamgefühl muss die Seite wechseln.“

Als die fünf Berufsrichter weitere Details des Horrors ausführen, beginnen die drei Kinder von Gisèle P. zu weinen. Sie selbst bleibt stoisch. Sie wolle ihrem Mann – von dem sie in Scheidung lebt und den sie nur noch „Herr P.“ nennt – in die Augen blicken, sagt ihr Anwalt später zu den Journalisten. Ungern gibt sie Einblick in ihr Seelenleben. Nur einmal sagt sie: „Ich habe meinen Mann und mein Leben verloren. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wohin ich gehen soll. Ich habe keine Identität mehr.“