Mit der gesellschaftlichen Sensibilisierung für das Thema sexuelle Gewalt steigt auch die Zahl der Falschbeschuldigungen. Zwischen 30 und 50 Prozent der polizeibekannten Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung könnten frei erfunden sein, schätzen Experten.
Stuttgart - Es ist noch nicht so lange her, dass die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule, bei den Regensburger Domspatzen, im Kloster Ettal sowie am Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin ans Licht kamen und die Republik erschütterten. 2010 war das Jahr, in dem die deutschen Medien mit einem bis dahin vorherrschenden Tabu brachen und ausführlich über die Vorfälle und deren Konsequenzen für die Opfer berichteten. Das gesellschaftliche Bewusstsein für die Thematik ist seither beständig gewachsen. Immer mehr Betroffene trauen sich heute, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen und auch vor der Justiz Gerechtigkeit für das ihnen Widerfahrene einzufordern.
Ein gesellschaftlicher Fortschritt, mit dem jedoch ein Problem einhergeht: Mit der Zahl der angezeigten Vergewaltigungen und der Missbrauchsfälle steigt auch die Zahl der Falschbeschuldigungen. Der Anzeigen also, bei denen das vermeintliche Opfer nicht Opfer, sondern Täter ist. 7919 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung wurden nach Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik 2016 im vergangenen Jahr zur Anzeige gebracht, die Aufklärungsquote lag bei 78,6 Prozent. Im selben Zeitraum wurde das Vortäuschen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt 558-mal angezeigt. Die Aufklärungsquote in diesem Bereich lag bei 100 Prozent.
Starker Anstieg sogenannter „Fake-Fälle“
Direkt vergleichen lassen sich die Zahlen zwar nicht, denn sexuelle Gewalt wird oft nicht angezeigt. Von den polizeibekannten Fällen könnten jedoch sogar zwischen 30 und 50 Prozent Falschbeschuldigungen sein, schätzen Experten wie etwa der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel. Bei einem Fall, der das Landgericht in Mannheim im Jahr 2011 beschäftigte, sagte Püschel aus, man habe in den letzten Jahren bedauerlicherweise einen starken Anstieg sogenannter „Fake-Fälle“ verzeichnen müssen, bei denen Personen behaupten, einem Verbrechen zum Opfer gefallen zu sein – und dabei sich selbst zugefügte Wunden präsentieren.
Den Beschuldigten kann eine derartige Tat zugrunde richten – psychisch wie auch finanziell. Das weiß der Hamburger Strafverteidiger Mirko Laudon. „Wer zu mir kommt, hat meist schon eine Durchsuchung erfahren – zuhause oder am Arbeitsplatz“, sagt er. Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, wissen die Nachbarn sowie die Arbeitskollegen häufig Bescheid über das, was dem Angeklagten vorgeworfen wird. Und das ist ein Problem. „Die Bereitschaft zur Vorverurteilung ist nirgends so groß wie im Sexualstrafrecht“, sagt Laudon. Die Folge einer Anzeige sei in der Regel die gesellschaftliche Ächtung.
Besonders heikel ist das im Zeitalter von Social Media: Noch nie war es so einfach, einen anderen in Verruf zu bringen. Keine höhere Instanz prüft, was der Einzelne auf Facebook, auf Twitter oder in Whatsapp-Gruppen postet – was grundsätzlich gut ist, denn nur so kann die Meinungsfreiheit gewährleistet bleiben. Doch die immensen Folgen eines Gerüchts, das sich rasant verbreitet, sollten nicht unterschätzt werden.
„Ein weiteres Verfahren – das möchte kaum jemand“
Dass manche Menschen anderen fälschlicherweise eine sexuelle Straftat vorwerfen, kann verschiedene Gründe haben. Drei Motive nennt Laudon, mit denen er regelmäßig in seiner Praxis zu tun hat. Bei einigen Fällen handele es sich um sexuelle Abenteuer mit misslungenem Ausgang: „Das Opfer will seinem Partner gegenüber zum Beispiel einen Seitensprung vertuschen“, erklärt der Anwalt. Ein weiterer Grund sei der klassische Racheakt. Vor allem Mütter würden bei Sorgerechtsstreitigkeiten immer wieder den Vater beschuldigen, sich jahrelang an den gemeinsamen Kindern vergangen zu haben. In die dritte Kategorie fallen Laudon zufolge psychisch kranke Menschen, etwa mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. „Die Fälle lassen sich schwer aufklären, da die Krankheit oft noch im Verborgenen liegt.“
Vor Kurzem erst hatte er es mit einem derartigen Fall zu tun. Nach einem One-Night-Stand mit seinem Mandanten hatte eine 15-Jährige sich selbst Verletzungen zugefügt. „Die rechtsmedizinische Untersuchungergab jedoch, dass sich die Spurenlage nicht mit dem geschilderten Geschehen in Einklang bringen ließen“, berichtet Laudon. Das Verfahren wurde eingestellt. Von einer Gegenanzeige sah sein Mandant dennoch ab. „In einer solchen Situation sind die meisten einfach nur erleichtert, dass der Spuk ein Ende hat. Ein weiteres Verfahren – das möchte kaum jemand.“