Vielerorts in Indien gibt es Demonstrationen gegen die Gewalt gegen Frauen Foto: dpa

Die Vergewaltigung und der Mord an zwei Mädchen in einem Dorf in Indien wirft ein grelles Schlaglicht auf das brutale Kastensystem. Es könnte ein Testfall für Indiens Politik werden.

Die Vergewaltigung und der Mord an zwei Mädchen in einem Dorf in Indien wirft ein grelles Schlaglicht auf das brutale Kastensystem. Es könnte ein Testfall für Indiens Politik werden.

Kartra - „Bin ich kein Bürger Indiens?“, ruft der Vater des ermordeten Mädchens verzweifelt. Der 55-jährige Sohan, ein dünner Mann mit sonnengegerbter Haut, will eine Antwort. Fünf Tage nach der brutalen Vergewaltigung und dem Mord an zwei Mädchen aus der Kaste der Unberührbaren in einem 6000-Seelen-Dorf in Nordindien wird das furchtbare Verbrechen zu einem Testfall für Indiens Politik.

Unter dem Mango-Baum, wo die beiden vergewaltigten Mädchen – zwei Kusinen im Alter von 14 und 15 Jahren – am Mittwoch tot an zwei Stricken baumelten, herrscht am Sonntag ein fast surrealer Hochbetrieb. Staatsminister und Parteiführer kommen und gehen in Katra, etwa 200 Kilometer von der indischen Hauptstadt Neu Delhi entfernt im Bundesstaat Uttar Pradesh. „Politik-Tourismu“ spotten die Medien, die selber mit Übertragungswagen und Kamerateams das kleine Dorf belagern. Rahul Gandhi, der Sohn von Kongress-Parteichefin Sonia Gandhi war bereits da, ebenso andere Politiker, für deren Stippvisite das Feld eines armen Bauern rücksichtslos in einenHubschrauberlandeplatz umfunktioniert wurde.

„Diese Besucher werden kommen und gehen“, sagt Sohan, „ich aber werde nicht ruhen. Die Täter sollen hängen, so wie meine Tochter.“ Als ihn der Parlamentsabgeordnete seines Wahlkreises, Dharmendra Yadav, nach seinen Wünschen fragt, sagt Sohan, er wolle nur eins: Gerechtigkeit.

Sohan und die beiden ermordeten Mädchen stammen aus der Maurya-Kaste, die ganz unten in der komplizierten und brutalen Kasten-Hierarchie steht, die Indien seit mehr als 5000 Jahren beherrscht. Die Polizei, allesamt aus der höheren Yadav-Kaste, so behauptet Sohan, habe sich zunächst geweigert, überhaupt eine Anzeige aufzunehmen und nach den Tätern zu suchen. Statt dessen hätte sie nach der Kaste von Sohan gefragt. Inzwischen hat die Polizei drei Personen festgenommen, die die Tat am Sonntag gestanden haben. Sie müssten sich wegen Vergewaltigung und Mord verantworten.

Auch wenn die soziale Abstufung mit der Verstädterung und Wanderung von Millionen Arbeitskräften in Indien an Bedeutung verliert, diktiert sie auf dem Land immer noch den Alltag. Unberührbare (Dalits) dürfen oft nicht aus dem selben Brunnen trinken wie andere Dorfbewohner. Teils ist ihnen selbst der Besuch im hinduistischen Tempel verwehrt, weil sie den heiligen Ort verunreinigen könnten. Wie Sohan haben Dalits oft nur einen Vor- und keinen Familiennamen.

In Katra gibt die Yadav-Kaste seit langem den Ton an – die Polizisten sind Yadavs, und auch die Mörder der beiden Dalit-Mädchen sollen Yadavs sein. Der Parlamentsabgeordnete ist ein Yadav, ebenso der Regierungschef der Bundesstaates, Akhilesh Yadav – sie stammen aus einer Familie. Der Yadav-Clan hat es verstanden, sich mit seiner Politik für die Yadav-Kaste eine Machtbastion in dem bevölkerungsreichen Bundesstaat Uttar Pradesh zu schaffen. Doch ihre Samajwadi-Partei (SP) ist politisch stark angeschlagen – bei der Parlamentswahl im Mai gewann sie nur noch fünf von 80 Wahlkreise in Uttar Pradesh.

Zwar hat die Politik der Zentralregierung die „Unberührbaren“ selbstbewusster werden lassen. In den vergangenen zehn Jahren wurden die niedrigeren Kasten systematisch aufgewertet, in dem für sie Quoten-Plätze im Staatsdienst und an der Universität schuf. Dieses Aufweichen der alten Hierarchien hat Uttar Pradesh aber zu einem Hexenkessel der Gewalt werden lassen. Höhere Kasten wie die Yadavs reagieren auf die Aufwertung der niedrigen sozialen Schichten mit brutalem Trotz. Besonders Dalit-Frauen werden Opfer des Kasten-Krieges.

In der indischen Mordstatistik rangiert Uttar Pradesh ganz oben. Pro Jahr werden hier durchschnittlich 5000 Morde und noch mal so viele Mordversuche polizeilich registriert. In den letzten zwei Jahren gab es über 200 gewaltsame Ausschreitungen. Mit jährlich 2000 Vergewaltigungen und etwa 8000 Entführungen von Frauen und Mädchen ist der Bundesstaat eine der unsichersten Gegenden für Frauen in Indien.

Die vom Yadav-Clan dominierte Regierung reagiert mit Achselzucken auf die Gewalt-Exzesse. Mulayam Yadav, der Vater des Regierungschefs, kommentiert das Problem der Massen-Vergewaltigungen gewohnt nonchalant: „Jungen sind Jungen. Sie machen halt Fehler.“ Und der SP-Politiker Naresh Agarwal bemerkt lapidar: „In einem so großen Land passieren solche Dingeeinfach.“