In der Nazi-Zeit wurden Homosexuelle verfolgt und ermordet. Eines der Opfer war die Künstlerin Käthe Loewenthal. Der Stuttgarter Kellner Karl Zeh überlebte seinen Leidensweg.
Stuttgart - Käthe Loewenthal zieht 1909 nach Stuttgart und beginnt ein Studium in der „Damenklasse“ der Königlich Württembergischen Kunstschule. Fünf Jahre später bekommt sie von der Stadt ein Atelier nahe ihrer Wohnung in der Ameisenbergstraße 32 zur Verfügung gestellt. Ihre Landschaftsbilder und ihre Porträts werden in verschiedenen Kunstgalerien in Stuttgart sowie im Münchner Glaspalast ausgestellt. Käthe Loewenthal lebt mit Erna Raabe zusammen, die sie bereits einige Jahre zuvor kennengelernt hat. Ihre Gefühle, die sie füreinander haben, können die beiden Frauen während der NS-Zeit nicht füreinander zeigen. „Zwar gibt es keine eindeutigen dokumentarischen Beweise, dass Käthe Loewenthal und Erna Raabe eine lesbische Beziehung führten, ich gehe aber davon aus, weil die Briefe, die sie sich schrieben, und die mündlichen Geschichten, die in der Familie weitergegeben wurden, es nahelegen“, sagt Wolf Ritscher, ein Enkel von Käthe Loewenthals jüngster Schwester Susanne.
Neben Käthe Loewenthal und Erna Raabe konnten Historiker bislang nur zwei weitere Frauen für die Region Baden-Württemberg ausfindig machen, die im „Dritten Reich“ vermutlich eine homosexuelle Beziehung führten: Marie Baum und Claire Waldoff. Die dokumentierte Zahl homosexueller Männer ist dagegen hoch, denn sie wurden systematisch von den Nazis erfasst. Im Gegensatz zu homosexuellen Frauen wurden Männer bei Verdacht eines Vergehens nach Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuchs strafrechtlich verfolgt. So wurden allein zwischen 1937 und dem ersten Vierteljahr 1939 insgesamt 2835 Männer von der Kriminalpolizei Stuttgart als Paragraf-175-Täter ermittelt.
Die KZ-Stationen des Karl Zeh
Einer dieser Männer war Karl Zeh. Laut dessen Schilderungen kam es im Januar 1940 in der Stuttgarter Gaststätte „Stadtgarten“ zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm, dem damals 36-jährigen Kellner, und Wilhelm Murr, Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter in Württemberg-Hohenzollern. Demnach wurde Zeh von Murr beschimpft, weil der Kellner ihn gebeten hatte, erst am Ende des Abends seinen Schnaps zu bezahlen. Murr habe das partout nicht gewollt und ihn willkürlich angezeigt.
Heute ist bekannt, dass Zeh diesen Vorfall bloß konstruiert hatte, um als politischer KZ-Häftling gesehen zu werden. Vor der Landesbezirksstelle für Wiedergutmachung fühlte er sich im Oktober 1949 gezwungen, seine Einweisung wegen gleichgeschlechtlicher Liebe zu vertuschen. Zeh wollte nicht preisgeben, dass er zwischenzeitlich den rosa Winkel tragen musste, das Kennzeichen für Männer, die wegen ihrer Homosexualität verurteilt wurden. Denn Schwule hatten in der Nachkriegszeit kein Recht auf Entschädigung für ihre KZ-Haft. Dabei war das Gefängnis Welzheim für Zeh nur die erste Station seines Leidenswegs: Danach landete er im KZ Sachsenhausen, im KZ Flossenbürg, im KZ Auschwitz, im KZ Mauthausen und im KZ Ebensee.
Strafbare Umarmung
„Die Angst entdeckt zu werden, war sicherlich ein ständiger Begleiter von gleichgeschlechtlich empfindenden Männern“, sagt Ralf Bogen, Leiter des Internetprojekts www.der-liebe-wegen.org, das die Verfolgung von gleichgeschlechtlich begehrenden Menschen im Südwesten aufgearbeitet hat. „Selbstverleugnung und Tarnung in heterosexuellen Ehen waren überlebensnotwendig.“
Während des Nationalsozialismus wurde der seit 1871 existierende Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuchs verschärft. Er lautete: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Im Unterschied zur Weimarer Republik galten alle sexuellen Handlungen, auch eine Umarmung in „wollüstiger Absicht“, als „Unzucht“.
Die Freiräume Homosexueller wurden Schlag auf Schlag zerstört. Hermann Göring, Preußischer Minister des Innern, verordnete bereits am 23. Februar 1933 die Schließung von Gaststätten, die „zur Förderung der öffentlichen Unsittlichkeit mißbraucht werden“. Davon betroffen war in Stuttgart unter anderem das Lokal „Zum Josefle“ in der Gutenbergstraße 50 a, das als Vereinssitz der Ortsgruppe des Bunds für Menschenrechte galt. Das Hauptziel dieser Organisation war die „Straffreiheit für alle homosexuellen Handlungen, die von erwachsenen Personen aus freiem Willen und im gegenseitigen Einverständnis miteinander vorgenommen werden“. Die Mitglieder der Ortsgruppe trafen sich auch regelmäßig in der Gaststätte Sonnenhof (Rotebühlstraße 89, heute Theater der Altstadt). Dort gab es zudem einen Lesbenstammtisch.
„Das Freundschaftsblatt“
Als „Orte des Vergnügens“ für Homosexuelle vor 1933 galten unter anderem auch die öffentliche Bedürfnisanstalt beim Friedrichsbau, das städtische Schwimmbad Büchsenbad sowie das Inselbad in Untertürkheim, der Hauptbahnhof sowie Schlosspark und das Hotel Marquardt. Für den Treffpunkt Café/Weinstube Lachenmaier (damalige Kasernenstraße 1) und für einen Maskenball im Saalbau Rosenau in der Rotebühlstraße 109 b warben noch im Januar und Februar 1933 Anzeigen in der homosexuellen Zeitschrift „Das Freundschaftsblatt“. Die Zeitschrift war eines von 24 Homosexuellenblättern, die zwischen 1919 und 1933 erschienen und dann als „Schmutz- und Schundschriften“ verboten wurden. Außerdem „säuberten“ nationalsozialistische Studentenorganisationen und die Hitlerjugend Bibliotheken und Buchhandlungen von allen Schriften der Homosexuellen-Bewegung.
Nachdem Hitler den als homosexuell bekannten SA-Stabschef Ernst Röhm und seine Vertrauten in der SA-Führung am 30. Juni 1934 hatte ermorden lassen, wurden homosexuelle Männer zu „Staatsfeinden“ und „Jugendverderber“ erklärt.
Warnung vor „Tangojünglingen“
Die homophobe Propaganda wurde nun lauter und zur ideologischen Beeinflussung die Broschüre „Reif werden – rein bleiben – eine Gesundheitsaktion der HJ“ eingesetzt. In dieser Schrift wurde vor „Tangojünglingen und ähnlichen Brüdern“ gewarnt, die andere vom „natürlichen Weg“ abbringen wollten, „weil sie selbst unnatürlich“ seien.
Die Bekämpfung homosexueller Männer wurde nun unter Führung des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei Heinrich Himmler vorangetrieben. Im Dreimonatstakt hatten die Stuttgarter Kripoleitstelle und die Gestapoleitstelle der Berliner „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ die Personalien von Homosexuellen, die Namen ihrer Sexualpartner und Angaben zu Maßnahmen der Strafverfolgung in „Rosa Listen“ zu nennen. Zwischen 1937 und 1940 waren reichsweit über 90 000 Männer in diesen Listen registriert. „Für die Nationalsozialisten war die Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung ein zusammengehörender Verfolgungsbereich“, sagt Ralf Bogen. „Beides bezeichnete Himmler als zu bekämpfende Volksseuchen und als Gefahr für das deutsche Volk.“ Homosexualität und Abtreibung widersprachen der NS-Rassenideologie, nach der dem Führer Adolf Hitler möglichst viele arische Kinder zu schenken waren.
Der rosa Winkel
Wer als homosexuell galt, kam eventuell zunächst mit einer Verwarnung davon. Wessen Homosexualität als „rückfällig“ oder „chronisch“ eingestuft wurde, kam häufig in ein Konzentrationslager und wurde mit einem rosa Winkel gekennzeichnet. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden ungefähr 6 000 Männer wegen Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt.
Im Juli 1940 ordnete Himmler die Kriminalpolizei an, homosexuelle Männer, die mehr als einen Partner „verführt“ haben, nach Verbüßung ihrer Straftat in ein KZ einzuweisen. Männer, „die kastriert sind oder sich dazu bereit erklärt haben, sich kastrieren zu lassen“, sollten von einer KZ-Einweisung, laut einer zwei Monate später erfolgten Anordnung, ausgenommen werden. Über 2800 Zwangskastrationen soll es im „Dritten Reich“ gegeben haben. Doch nicht einmal diese Kastrationen haben den betroffenen Männern ein Leben in Freiheit gesichert. So wurde der in Stuttgart geborene Schauspieler Fritz Junkermann aufgrund seiner mutmaßlichen Homosexualität verhaftet und ins KZ Sachsenhausen eingeliefert. Dort ließ er sich angeblich freiwillig kastrieren, um seine Ermordung zu verhindern. Junkermann wurde am 9. April 1942 operiert, dennoch deportierte man ihn Anfang August 1942 in die Tötungsanstalt Bernburg, wo er am 5. Oktober 1942 vergast wurde.
Wie viele homosexuelle Frauen deportiert wurden, ist nicht bekannt. Denn Lesben wurden selten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verurteilt und wenn, dann wurden sie nicht mit einem rosa Winkel gekennzeichnet, sondern mit einem schwarzen, der Farbe für „asozial“. „Das patriarchalische Männer- und Frauenbild hat in unserer Kultur viele Jahrhunderte einen entscheidenden Einfluss auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen gehabt“, sagt Wolf Ritscher. „Die Nazis haben dies – wie in anderen Bereichen – nur zugespitzt.“
Tod in Izbica
Diesem traditionellen Bild der Frau entsprachen Käthe Loewenthal und Erna Raabe nicht. Doch der Grund, warum Loewenthal ins Visier der Nationalsozialisten geriet, waren nicht ihre vermuteten Gefühle für Raabe, sondern ihr jüdisches Elternhaus. An Kunstausstellungen durfte sie ab 1934 nicht mehr teilnehmen. Ihr Atelier in Stuttgart wurde gekündigt, sie wurde von dem „Württembergischen Malerinnenverein“ ausgeschlossen und erhielt Malverbot.
1935 konnte sie in die Schweiz ausreisen, doch sie kehrte zurück nach Stuttgart, um ihre Freundin Erna Raabe zu pflegen, die 1938 starb. Käthe Loewenthal wurde zunächst in eine „Judenwohnung“ in Stuttgart-Kaltental und 1942 in das Sammellager in Weißenstein bei Göppingen zwangsumgesiedelt. Am 26. April 1942 wurde sie nach Izbica deportiert. Dieser Tag wird als ihr Todesdatum angegeben.
Der Stuttgarter Kellner Karl Zeh überlebte seinen Leidensweg. Nachdem er sich bei Arbeiten im Steinbruch nahe des KZ Flossenbürg eine doppelseitige Lungenentzündung zugezogen und seinen linken Fuß gebrochen hatte, wurde er im August 1941 weiter verschleppt in das KZ Auschwitz. Vier Jahre später wurden Zeh und andere Häftlinge, von Typhus und Unterernährung gekennzeichnet, aufgefordert, einen Teil der Strecke von Auschwitz ins KZ Mauthausen in Österreich zu Fuß zurückzulegen. Für Zeh folgte die nächste Verlegung in das KZ Ebensee, wo er und weitere Tausend am 6. Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurde.
Weiter Weg zur Toleranz
Nachdem die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten geendet hatte, galt Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs in der nationalsozialistischen Fassung auch in der Nachkriegszeit. Homosexualität stand damit weiterhin unter Strafe.
Im Januar 1949 wurde Karl Zeh erneut verurteilt, dieses Mal vom Landgericht Stuttgart zu vier Monaten Gefängnis. Im Oktober 1949 beantragte Zeh Entschädigung für seine KZ-Haft – erfolglos. Weil Homosexualität noch immer strafbar war, musste Zeh politische Gründe vortragen, um Recht zu erhalten. Deshalb konstruierte er die Geschichte über eine Auseinandersetzung mit Gauleiter Murr im „Stadtgarten“. Tatsächlich wurde Zeh mehrfach als politischer Gefangener mit dem roten Winkel gekennzeichnet. Doch im Beschluss des Landgerichts Stuttgart der Wiedergutmachungskammer II sind seine Vorstrafen und die Tatsache, dass er zwischenzeitlich im KZ Flossenbürg nicht nur den roten, sondern auch den rosa Winkel getragen hatte, als Ablehnungsgründe seiner Klage festgehalten. Diese wird „als unbegründet“ abgewiesen. Sein Todesdatum ist nicht bekannt.
Im Jahr 1969 wurde der Paragraf 175 im Strafgesetzbuch entschärft. Von da an, bis zur vollständigen Aufhebung des Paragrafen im Jahr 1994, wurden in Deutschland weitere 3500 Personen verurteilt. Der Deutsche Bundestag hob die Urteile gegen Homosexuelle zur Zeit des Nationalsozialismus im Jahr 2002 auf. Verurteilte bis 1945 wurden damit rehabilitiert. Seit 2017 können auch Schwule, die nach der NS-Zeit verurteilt wurden, einen Antrag auf Entschädigung stellen. Im gleichen Jahr beschloss der Deutsche Bundestag die „Ehe für alle“. Seitdem dürfen schwule und lesbische Paare heiraten.
Dass bis zu dieser Rechtsprechung Homosexuelle der Liebe wegen sterben mussten, daran erinnern noch heute die Stolpersteine der Opfergruppe der Schwulen und Lesben. In Stuttgart stehen zwei der gesetzten Stolpersteine mit Männern in Verbindung, die nach Paragraf 175 kriminalisiert wurden: Willi Karl App (Leonhardsplatz 15) und Friedrich H. Enchelmayer (Aberlin-Jörg-Straße 13). Und in der Ameisenbergstraße 32 erinnert ein Stolperstein an das Schicksal der Künstlerin Käthe Loewenthal.