Das Innenmisterium ließ Protokolle des Verfassungsschutzes zu Abhörmaßnahmen vernichten.

Berlin - Das Bundesinnenministerium (BMI) hat zehn Tage nach dem Auffliegen der Thüringer Neonazi-Zelle NSU angeordnet, dass die Protokolle von sechs Abhörmaßnahmen des Bundesamts für Verfassungsschutz vernichtet werden, obwohl es sich dabei um Spitzelaktionen gegen Rechtsextremisten gehandelt hatte. Nach Informationen unserer Zeitung informierte die für den Neonazi-Untersuchungsausschuss zuständige Projektgruppe im Innenministerium erst an diesem Dienstag die Mitglieder des Bundestags-Untersuchungsausschusses über die Schredder-Anordnung des BMI vom 14. November 2011. Das BMI bestätigte den Vorgang am Abend und rechtfertigt ihn mit einer „fristgerechten Sammelanordnung für Löschungsfälle nach Ablauf der Speicherfrist“, so ein Ministeriumssprecher. Der Vorgang sei in der Sache gerechtfertigt und die zeitliche Nähe zum Aufdecken des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ NSU um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ein Zufall.

Das Ministerium will Stellung nehmen

Bundesverfassungsschutzpräsident Heinz Fromm hatte Anfang Juli um seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand gebeten, nachdem eine erste solche Schredderaktion am 11. November 2011 bekannt geworden war – erst am 4. November 2011 hatte sich erwiesen, dass das NSU-Neonazi-Trio die Morde an neun Ausländern und einer Polizisten in den Jahren 2000 bis 2007 begangen hatte. Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte sich Fromm fassungslos gezeigt, dass unmittelbar danach Akten in seinem Haus vernichtet worden waren. Nun räumt das Innenministerium ein, ebenfalls in direkter zeitlicher Nähe dazu sechs Abhörprotokolle des Bundesamts aus dem Bereich Rechtsextremismus schreddern lassen zu haben.

Das Ministerium will heute in der Sondersitzung des Bundestags-Untersuchungsausschusses dazu Stellung nehmen.

Das Innenministerium teilte zwar im Nachhinein mit, die vernichteten Akten hätten nichts mit dem Auftrag des Ausschusses zu tun, die Neonazi-Mordserie aufzuklären. Dies weckt jedoch den Zweifel der Mitglieder des Bundestags-Untersuchungsausschusses um dessen Vorsitzenden Sebastian Edathy (SPD). Zumal das Gremium erfuhr, die Fromm-Behörde habe Protokollkopien weiterer eigener Überwachungsmaßnahmen angefordert, die sich 1998/99 gegen zwei sächsische NSU-Helfer gerichtet hatten. Der Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags und der dortige Verfassungsschutz fragen sich gleichermaßen, warum das Bundesamt Kopien eines Vorgangs anfordern muss, den es selbst durchgeführt hat – und vermuten, dass das Bundesamt die Originalprotokolle bereits vernichtet hat.

Massiv gestiegen ist auch die Gewaltbereitschaft der autonomen linken Szene

Die Gremien zur Aufklärung der NSU-Mordserie wollen nun der Frage nachgehen, ob die Behörde des scheidenden Präsidenten noch nach dem Auffliegen der NSU-Mörder auch diese Protokolle vernichten ließ – wie jüngst die Akten zur sogenannten Operation Rennsteig – und auch dies auf Anweisung des Innenministeriums geschah.

Fromm stellte am Mittwoch den Verfassungsschutzbericht 2011 vor. Er befürchtet, dass sich weitere rechtsextremistische Terrorzellen nach NSU-Vorbild gründen. Trotz der steigenden Gewaltbereitschaft in der rechten Szene bleibe die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus Arbetsschwerpunkt. Terrororganisationen wie El Kaida seien zwar geschwächt; jedoch planten verstärkt Einzelpersonen und Kleinstgruppen Anschläge. Er sprach von einem „individuellen Dschihad“.

Massiv gestiegen ist auch die Gewaltbereitschaft der autonomen linken Szene. Die Angriffe richten sich insbesondere gegen Rechtsextremisten oder Polizisten. Die Linkspartei hat der Verfassungsschutz weiter im Visier.