Der Stuttgarter Krimi-Autor Heinrich Steinfest Foto: dpa

Der Stuttgarter Autor Heinrich Steinfest über das Spiel mit Gut und Böse, die Krimiflut am Büchermarkt und seine Aversion gegen den „Tatort“

Stuttgart - Um den Kriminalroman muss man sich keine Sorgen machen. Die Lust der Deutschen am Verbrechen ist ungebrochen. Wie das kommt? Wir haben uns darüber mit dem Autor Heinrich Steinfest (53) unterhalten.

Herr Steinfest, was fasziniert so viele Menschen an Kriminalromanen?
Die Möglichkeit, auf gefahrlose Weise zu erfahren, was in einem steckt oder stecken könnte. Der Kriminalroman stellt die Frage nach Gut und Böse, er erörtert damit ein uraltes Bedürfnis des Menschen. Wenn es für den Menschen einen Gottesbeweis gibt, dann ist es seine Freiheit, gut oder böse zu sein. Wäre er nur gut, wäre er eine Marionette Gottes. Aber er ist frei in seiner Entscheidung. Davon handelt ein Kriminalroman.
Der Mensch entwickelt bei der Lektüre eine Zuneigung zum Bösen, er sympathisiert mit Verbrechern, mit Mördern?
Das kommt vor. Diese Zuneigung konterkariert das übliche Wertesystem, in dem wir leben. Der Täter, der Gangster, ist ein Individualist, ein nicht konformer Charakter. Er tut oft Dinge, die uns sympathisch sind. Fast jeder hat heute, meist aus guten Gründen, eine Aversion gegen die Bank. Jetzt kommt es darauf an, wie intelligent der Banküberfall ausgeführt wird. Beraubt der Gangster die Bank mit einem originellen Plan, gräbt er virtuos einen Tunnel, überlistet er weise das System, ist man auf seiner Seite. Nimmt er dagegen ein Kind als Geisel, verliert er die Zuneigung. Auch die Figur des Ermittlers kreist geradezu obsessiv um das Thema des „Bösen“, nicht bloß im Sinn einer Pflichterfüllung. Ermittler wirken stets religiös.
Was sind Motive für die Sehnsucht nach dem Spiel mit Gut und Böse?
In jedem steckt ein gewisses Gewaltpotenzial. Natürlich haben wir einen Willen, aber wir sind auch Getriebene. Eigentlich wollen wir ja in den Himmel kommen, aber spannender finden wir es, in die Hölle hinabzusteigen – erst recht, wenn man sich die Hölle als ein überheiztes Wiener Kaffeehaus vorstellt. Das hat mit dem Eskapismus zu tun, dem Wunsch, in andere Welten, in Traumwelten vorzustoßen. Mit Hilfe des Kriminalromans lassen sich Abenteuer erleben. Andererseits kommt das Gewaltpotenzial im Alltag zum Vorschein, in der Familie, im Beruf, beim Umgang mit der Macht. Meist subtil. Mit dem Kriminalroman macht der Leser Erfahrungen, die er aus der Realität nicht kennt und womöglich auch gar nicht machen will. Der Kriminalschriftsteller hat die Aufgabe, vorhandene, real existierende Dinge für den Leser zu erhöhen, ihm das Dramatische, auch das Komische zu liefern.
Das ist eine künstlerische Herausforderung, die die meisten Krimis nicht erfüllen.
Klar, es gibt auch schlechte Kriminalromane. Aber das bedeutet nichts für das Genre. Es gibt auch sehr viele schlechte Lyrik, sehr viele schlechte Prosa – oder elende Aquarelle. Grundsätzlich bedeutet das: Es gibt nur gute und schlechte Bücher . . .
. . . und es gibt reichlich Krimikategorien, um den Markt anzukurbeln. Sehr erfolgreich sind die sogenannten Regionalkrimis. Warum?
Schon der Begriff des Regionalkrimis ist merkwürdig. Viele gute Krimis spielen ja seit je an einem speziellen Schauplatz, in einer speziellen Stadt. Raymond Chandlers Detektiv Philip Marlowe etwa ermittelte in Los Angeles. Der Ort des Geschehens hat eine Psychologie, eine politische Atmosphäre, einen urbanen wie poetischen Charakter, der die Figuren der Geschichte prägt. Kein Mensch käme auf die Idee, bei Krimis, die in New York, Los Angeles oder London spielen, von Regionalkrimis zu sprechen. Heute aber erfindet man quasi für jedes Nest einen Detektiv, gräbt ein wenig in der Heimatgeschichte herum, beschreibt ein paar Straßen und nennt das dann Regionalkrimi. Manchen Leuten gefällt das, weil sie die Hoffnung hegen, sich darin wiederzufinden, wenigstens eine Gasse, die sie kennen.
Sie haben vor etwa 20 Jahren als Kriminalschriftsteller begonnen. Das Komische, das Skurrile dominierten von Anfang an in Ihren Büchern. Ihr Held, der Wiener Chinese Markus Cheng, hatte nur einen Arm und eine Abneigung gegen Asiaten.
Cheng ist gewissermaßen ein von Gott Verfolgter, einer, der von einem Unglück ins nächste stolpert. Ohne seinen Makel, den fehlenden Arm, wäre dieser Mensch nicht denkbar. Erst der Makel gibt dieser Figur seine ganz eigene Eleganz. Das hat nicht nur mit dem fehlenden Arm zu tun. Cheng sieht wie ein Chinese aus, ist aber durch und durch ein Wiener, der tatsächlich Aversionen gegen alles Asiatische hat.
Damit ist er eine hochaktuelle politische Figur: quasi der in Deutschland geborene Türke, der sich als Deutscher fühlt, aber als Türke gesehen wird.
Das Politische war von mir nicht beabsichtigt, spielt aber zwangsläufig hinein, weil die Umgebung, die soziale Situation, einen Menschen prägt. Mir ging es um das Dilemma dieser Figur. Da habe ich mich ein wenig vom Genre der Comics leiten lassen.
Kommen wir zur Komik an sich. Werden Schriftsteller, die mit dem Element Humor spielen, von der Kritik weniger ernstgenommen?
Das kann passieren bei Leuten, die Humor und Komik mit Witzemachen verwechseln. Manchmal herrscht auch heute noch die Meinung: Das Gute muss was Ernstes sein. Aber ich bin ja kein Kabarettist, kein Spaßmacher. Der Komiker an sich beobachtet und dosiert sehr scharf, er überhöht die Realität nur leicht, weil er weiß, dass die Komik immer ein Teil der Wirklichkeit ist.
Sie haben sich im Lauf der Jahre immer weiter vom gängigen Kriminalroman entfernt. Stand dahinter eine Entscheidung, oder war es eine künstlerische Entwicklung?
Das war eine Entwicklung. Einerseits habe ich kein Problem, mich auf verschiedene Genres einzulassen, gleichzeitig einen Robert Musil und einen Dashiel Hammett mit demselben Respekt zu lesen. Ich habe mich als Person im Lauf der Zeit sehr verändert, und mein Bedürfnis wuchs, über Träume zu schreiben. Nicht in dem Sinn, dass ich Träume deuten will. Sagen wir es so: Heute bin ich ein Detektiv, der in andere Sphären vorstößt, in Parallelwelten. Das wird ganz deutlich in meinem nächsten, im März erscheinenden Roman „Das grüne Rollo“. Es geht um einen Jungen, der hinter einer Jalousie in eine Albtraumwelt gerät und der 40 Jahre später auf die gleiche Weise dorthin zurückkehrt. Zudem schreibe ich gerade ein Buch über einen Spatzen, der davon träumt, ein Kommissar zu sein. Auf der anderen Ebene dieser Geschichte gibt es einen Kommissar, der davon träumt, ein Spatz zu sein.
Ist das der neue Spatzen-Krimi?
Passieren könnte es schon, dass der eine oder andere denkt, es gäbe nach dem Katzen-Krimi nun den Spatzen-Krimi. Das ist Unsinn. Ich folge meiner Liebe, die Welt durch ein „neues Paar Augen“ zu betrachten. Diesmal sind es die Augen eines philosophischen Vogels. Er heißt Quimp, ein Bahnhofsspatz im Gare Montparnasse, der sich vom Übriggelassenen der Menschen ernährt und sich überlegt, ob er noch in der Lage wäre, ein natürliches Leben zu führen, etwa Würmer zu essen. Ihm graust davor. Ihm graust vor der Natur. Vor dem Töten. Nicht aus moralischen Gründen, aus ästhetischen. Aus diesem Zweifel erwächst das Abenteuer seines Lebens.
Wie sieht Ihr künstlerischer Anspruch aus?
Es ist mein schriftstellerischer Ehrgeiz, beispielsweise einen Tisch so zu beschreiben, wie ihn noch keiner beschrieben hat, um einen neuen Blick auf den Tisch zu erfahren. Ich denke dabei an die bildende Kunst. Die Expressionisten haben den Blick auf die Seele neu definiert, die Kubisten den Blick auf den Gegenstand. Und ich bin gerade dabei, den Blick auf Spatzen neu zu definieren.
Hat sich durch Ihre Entwicklung auch der Blick auf Sie selbst verändert?
Ja, ich habe gemerkt, dass ich von einigen Kritikern anders wahrgenommen wurde, als sie mitbekommen hatten, dass ich kein Kriminalschriftsteller bin, wie man ihn klischeehaft vor Augen hat.
Schauen Sie „ Tatort“, das wichtigste TV-Gut der Deutschen?
Sinn und Zweck des „Tatorts“ ist ein therapeutischer. Denn der Sonntagabend ist die Stunde der Depression, weil in uns allen die Angst vor dem Beginn der Schulwoche steckt. Was der Fußball für den Samstag, ist also der „Tatort“ für den Sonntag. Da gibt es hin und wieder eine Überraschung – großartig etwa 2014 „Im Schmerz geboren“ mit Ulrich Tukur. Oft aber denk’ ich mir: Jetzt schau’ ich mir das an, damit ich weiß, was man alles vermeiden sollte. Zum Beispiel Orte zu zeigen, Lokales, ohne das Wesen dieser Orte auch nur anzukratzen. Oder so völlig aus Witzeleien zu bestehen, ich sage nur Alberich aus dem Münsteraner „Tatort“.
Könnten Sie sich vorstellen, trotzdem das Drehbuch für einen Krimi zu schreiben?
Nein. Ich bin ein Schriftsteller, der nur in seinem Stil arbeiten kann – und ihn auf keinen Fall verlassen will. Ich habe das Glück, dass ich schreiben kann, was ich will, das Glück, dass mein Verlag keinen Druck macht. Er veröffentlicht, was ich liefere – freilich nicht ohne die Interventionen einer klugen Lektorin. Für Drehbücher wäre ich ungeeignet. Ich bin fürs Fernsehen nicht geboren. Ich bin ganz Buch.
Zur Person:

Heinrich Steinfest

1961 in Australien geboren, in Wien aufgewachsen.

Der Österreicher lebt als Schriftsteller und Maler in Stuttgart. In den 90ern veröffentlichte er seine ersten Werke, 1996 folgte das Krimidebüt „Das Ein-Mann-Komplott“.

Mehrere Auszeichnungen, darunter 2010 der Heimito-von-Doderer-Preis. 2014 war er mit „Der Allesforscher“ für den Deutschen Buchpreis nominiert.