Burger gibt es auch in großer Auswahl ohne Fleisch. Die Umstellung auf eine vegetarische Ernährung scheint heute so leicht wie nie. Foto: dpa-Zentralbild

Immer mehr Bundesbürger leben vegetarisch oder vegan – das Geschäft mit Veggie-Produkten boomte über Jahre. Ist jetzt ein Ende in Sicht?

Stuttgart - Veganer schlemmen Döner und Schnitzel, aber auch Eis und Schoko-Crossies – alles rein pflanzlich, versteht sich. Was für ein Wandel! Vor 20 Jahren war das Veganer-Dasein noch ein tristes, wie Attila Hildmann aus Berlin, der ebenso umtriebige wie umstrittene Krawallmacher der Szene, sich in einem Interview erinnerte: „Als ich im Jahr 2000 angefangen habe, mich vegan zu ernähren, war das kulinarische Angebot einfach katastrophal.“ Der 37-Jährige hat seine Ernährungsform selbst zum Geschäft gemacht hat – als Autor von Kochbüchern, Imbissbetreiber, Online-Händler und Talkshow-Gast.

Kein Fleisch, keine Eier, keine Butter, keine Milch, kein Käse, kein Honig, keine Gelatine – Verzicht zu üben gilt mittlerweile als visionär, auch weil Hollywood-Stars und andere Prominente sich zu diesem Lebensstil bekennen. Hierzulande gibt es zwischen 800 000 und 1,3 Millionen Veganer, das sind gut ein Prozent der Bevölkerung. Fünf bis sechs Prozent ernähren sich vegetarisch. Zum Vergleich: 2006 waren es laut Nationaler Verzehrstudie nur 1,6 Prozent fleisch- und fischabstinente Vegetarier. „Die Zahl hat sich mehr als verdreifacht, das ist eine ziemlich schnelle Entwicklung in zwölf Jahren“, sagt Achim Spiller, Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte an der Universität Göttingen. Der Tierschutz spiele dabei für viele eine große Rolle, aber auch die Gesundheit und der Klimaschutz.

Die Rügenwalder Mühle hat den Trend erkannt

Die Nahrungsmittelindustrie hat die lukrative Nische längst entdeckt und entwirft immer neue Produkte. Der Umsatz mit Sojamilch, Schnitzeln aus Seitan (Weizeneiweiß) und anderen Produkten, die als vegetarisch/vegan oder veggie ausgelobt sind, ist im Lebensmittelhandel und in Drogeriemärkten deutlich gestiegen – rund eine Milliarde sollen es laut Nielsen in diesem Jahr werden. Supermärkte und Discounter bestücken immer mehr Regale mit pflanzlichen Alternativprodukten und steigen teilweise mit Eigenmarken in das Segment ein.

Ausgerechnet die Rügenwalder Mühle, einst ein klassischer Fleischverarbeiter, ist nach eigenen Angaben mit 25 Prozent Marktanteil und zweistelligem Wachstum Marktführer im Segment Fleischersatz. Der Mittelständler aus dem niedersächsischen Bad Zwischenahn will bis 2020 rund 40 Prozent seines Umsatzes mit vegetarischen und veganen Fleischalternativen erwirtschaften. Der Imagetransfer scheint gelungen: 61,1 Prozent kennen die Rügenwalder Mühle laut Statista als Anbieter vegetarischer Produkte, deutlich vor Alnatura (51 Prozent). Auch bei der Frage, welche Veggie-Marke man schon mal gekauft habe, liegt man mit 29,6 Prozent vorne.

Aber können hartgesottene Veganer ausgerechnet einen Wurstproduzenten dabei unterstützen, seine Umsätze zu steigern? „Rügenwalder Mühle hat die beste Markenpolitik betrieben“, meint Spiller, es gebe viele Neukunden – darunter zahlreiche sogenannte Flexitarier, die sich nicht konsequent vegetarisch ernähren, sondern einfach nicht jeden Tag Fleisch essen wollen. Für Veganer seien viele Fertigprodukte wegen des hohen Eianteils ohnehin keine Alternative, so Spiller. Beate Gebhardt von der Uni Hohenheim verweist auf eine Umfrage des veganen Informationsportals www.vegan.eu. Demnach greifen Veganer lieber zu Gemüse, Obst und Vollkorn als zu Fleischersatz. Mehr als zwei Drittel essen die Convenience-Produkte sogar höchstens einmal in der Woche oder gar nicht.

Kritisiert werden die hohen Preise

Vielleicht auch deshalb, weil sie es gewohnt sind, die Zutatenlisten genau zu studieren – und wissen, dass es sich beim Fleisch- und Milchersatz keinesfalls um naturreine Produkte handelt, sondern häufig um hoch verarbeitete Lebensmittel. Weil Tofu oder Seitan eher fad schmecken, müssen sie aufgepeppt werden, teils mit Aromastoffen und Geschmacksverstärkern, die ernährungsphysiologisch umstritten sind. Auch geschmacklich ist nicht jeder von den Ersatzprodukten überzeugt. Wer im Bioladen einkauft, ist im Vorteil, sagen Verbraucherschützer: Von den mehr als 300 Zusatzstoffen, die EU-weit erlaubt sind, sind bei Bioprodukten viele verboten, darunter Farbstoffe, Süßstoffe, Stabilisatoren und Geschmacksverstärker.

Kritisiert werden auch die hohen Preise der Ersatzprodukte. Tofu-Aufschnitt, veganer Käse und pflanzliche Milch, etwa aus Mandeln, kosten oft deutlich mehr als die entsprechenden tierischen Produkte. Die Hersteller begründen das damit, dass die Entwicklungskosten hoch sind und die Mengen kleiner – und dass sie nur genfreies Soja, auf dem Weltmarkt nur mit Aufpreis zu haben, verwenden. Wissenschaftler sprechen dagegen von einer Abschöpfungsstrategie. Das bedeutet, neue Produkte werden eher hochpreisig auf dem Markt eingeführt – und nicht als billige Massenware.

Diverse Siegel und Label erschweren die Kaufentscheidung

Kritiker bemängeln darüber hinaus eine ungenaue Kennzeichnung. Diverse Siegel und Label erschweren die Kaufentscheidung, statt als Orientierung zu dienen. Eine europäische Bürgerinitiative will jetzt auf EU-Ebene dafür sorgen, dass Lebensmittelhersteller klar angeben müssen, ob ihre Produkte vegetarisch, vegan oder fleischhaltig sind. EU-Bürger sollen das Anliegen durch das Zeichnen einer Petition unterstützen können.

Vielleicht haben diese Faktoren – Preis, Kennzeichnung, Geschmack – dazu geführt, dass der über Jahre hinweg stark wachsende Markt für Fleischersatzprodukte nach Angaben der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im vergangenen Jahr rückläufig war. Auch das Unternehmen Rügenwalder Mühle räumt ein, dass sich der Markt „deutlich langsamer“ entwickelt als in den vergangenen Jahren. Aber: „Wir sind davon überzeugt, dass vegetarische und vegane Fleischalternativen weitaus mehr als ein kurzlebiger Trend sind – und das sagen wir als ehemals klassischer Fleischverarbeiter.“

Wissenschaftler sehen ebenfalls noch Potenzial: „Der Anteil derjenigen, die sagen, dass Tiere ein Recht auf Leben haben, beträgt 15 Prozent – da ist also noch Spielraum“, meint etwa Achim Spiller. Er hat freilich auch schon einen Gegentrend beobachtet: In Teilen der Bevölkerung nehme der Fleischkonsum sogar wieder zu: unter jungen Männern etwa, „die am liebsten im Winter durchgrillen würden“.