Vancouver - in der Stadt ist schon Frühling. Foto: dpa

Vancouver ruft zu den Olympischen Winterspielen - doch es fehlt an Schnee.  

Vancouver - In der Nacht zum Samstag beginnen im frühlingshaften Vancouver dieOlympischen Winterspiele. Vom olympischen Flair ist an Kanadas Westküste zwar noch nicht viel zu spüren, die Einwohner allerdings zeigen viel Begeisterung und Patriotismus.

Als Schlafwandler war John Furlong bisher eher nicht bekannt. Als einer, der die Nächte in aller Ruhe und in seinem Bett verbringt, allerdings auch nicht. Aber das ist auch kein Wunder. John Furlong ist der Cheforganisator der Olympischen Winterspiele in Vancouver - und hat es derzeit nicht leicht. Sein größtes Problem: der Schnee. Beziehungsweise: der Schnee, den es nicht gibt. Schon seit Jahresanfang nicht.

Nun ist es so, dass Furlongs Problem nicht das der Skirennläufer, Biathleten, Skispringer und Langläufer ist, weil die Sportler in diesen Disziplinen im Bergort Whistler mehr als genug Schnee haben. Es ist aber das Problem von Cypress Mountain, dem Austragungsort der Ski-Freestyle- und Snowboardwettbewerbe. Es war in den vergangenen Wochen nicht immer sichergestellt, dass dort Wintersport betrieben werden kann. Und so beschäftigte sich Furlong mit dem Wetter auch nach dem Ende seines Arbeitstags.

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch jedenfalls hatte er den Schlafanzug längst übergestreift, doch statt langsam vor dem Fernseher einzuschlafen, fixierte er das Thermometer - und war freudig überrascht: "Ich bin um vier Uhr morgens im Pyjama durchs Zimmer gelaufen und habe gesehen, dass es draußen null Grad hat", erzählt Furlong. Er kann sein Glück noch immer kaum fassen: "Vielleicht hat Gott endlich damit aufgehört, Spielchen mit uns zu spielen." Denn die Spielchen sind nicht gut für die Spiele. Zumindest nicht für Winterspiele.

Cabrio-Verdeck runter - Sonne genießen

Aber um Winterspiele geht es ja in Vancouver und Whistler - auch wenn es noch in den letzten Tagen vor dem Start so ganz anders ausschaut. Wir haben den Monat Februar - das muss man sagen, denn dies ist ein verdammt wichtiger Zusatz in Zeiten, in denen an Kanadas Westküste an Winter nicht wirklich viel erinnert. Man könnte auch sagen: Es erinnert überhaupt nichts daran. Wer unwissend schätzen müsste, um welche Jahreszeit es sich hier denn nun handelt, würde wohl auf Frühling tippen, auf Anfang Mai vielleicht.

Die Sonnenstrahlen jedenfalls sind zahlreich und ausdauernd, die Temperaturen so um die zehn Grad Celsius, und am Fuße der Lions Gate Bridge halten die Fahrzeuge nicht nur wegen des zähfließenden Verkehrs an, sondern auch, um das Cabrio-Verdeck zu öffnen. Ein paar Kilometer weiter, Downtown Vancouver, sieht man mehr Menschen in kurzen Hosen als in Skianoraks, und wer sich nicht auskennt mit den olympischen Zyklen, der wird sich fragen, wieso um alles in der Welt Sommer- und Winterspiele nun doch wieder im selben Jahr statt-finden. Das eine Ereignis in Vancouver, das andere oben in Whistler Mountain.

Verdient habe es Vancouver auf jeden Fall, mit seiner mediterranen Kulisse an der Küste und den verschneiten Bergen im nahen Hinterland. Und, zugegeben, Widerspruch fällt da ja nicht leicht. Es ist tatsächlich beeindruckend, aus Whistler kommend einzutauchen in die Welt Vancouvers, in gut zwei Stunden den Winter mit dem Frühling zu tauschen, das gleißende Licht der Sonne über dem Meer zu genießen und so dieses grandiose Flair geradezu aufzusaugen. Doch dann, wenn man sich auf den Grund des Besuchs besinnt, bleibt eben auch die Frage: Entspricht das wirklich dem Flair von Olympischen Winterspielen? Und man kommt zu dem Schluss: Eher nicht.

Sicher, in Vancouver ist das mit dem fehlenden Schnee kein echtes Problem. Eishockey, Curling, Eisschnelllauf - all das findet in Hallen statt, gut heruntergekühlt, die Flächen schön vereist. Außerhalb aber fällt es nicht leicht, die Stadt mit all dem in Verbindung zu bringen, was da nun am Freitagabend Ortszeit beginnt.

Sicher, einige olympische Einrichtungen sind gekennzeichnet: Vor der Vancouver Art Gallery beispielsweise steht ein roter Bob, dazu bereichern ein paar riesige Werbebanner der IOC-Sponsoren die Stadt - viel mehr ist allerdings noch nicht zu sehen von den anstehenden Spielen. Nicht einmal die über 16000 Soldaten und Polizisten, die die Sicherheit gewährleisten sollen, fallen auf im Stadtbild. Vancouver im Ausnahmezustand? Nicht wirklich. Oder doch?

Go, Canada, go

Es trifft einen etwas unvermittelt, aber doch, es schlägt, das olympische Herz. Und zwar genau hier: An der Ecke Hornby- und Georgia Street. Hier steht kein Eishockey-Tempel, auch keine Eisschnelllauf-Bahn, nicht mal Curling wird hier gespielt, und die kommenden Stars der Spiele gibt es allenfalls in Form von Plakaten. Aber hier befindet sich der größte Olympia-Shop der Stadt.

Draußen auf dem Gehweg stehen Menschen Schlange, und es ist ein bisschen wie vor einem überfüllten Parkhaus. Erst wenn einer rauskommt, darf ein anderer rein. Drinnen wird dann schnell deutlich, wie es denn so ist, das Verständnis der Vancouverites von den Olympischen Spielen. Es geht um Solidarität mit all jenen, die dieses Land auf den Pisten und Eisflächen repräsentieren. Das Motto: Go, Canada, go.

Die Shirts, Jacken und Caps mit dem olympischen Logo jedenfalls hängen ziemlich alleingelassen auf den Ständern dieser riesigen Einkaufsfläche. Auch die Abteilung mit den Produkten der Ureinwohner wirkt verlassen. Dort jedoch, wo auf Pullis, Mützen, Hemden oder Anoraks das Ahornblatt oder ein Kanada-Schriftzug prangt, herrscht Ausnahmezustand.

Mary, 24, erlebt ihn seit Weihnachten. Seitdem, sagt die Verkäuferin, reißen sich die Einheimischen um die Fan-Produkte. In Schwarz gibt es sie, auch in Weiß oder Gelb, wirklich gefragt ist aber nur eine Farbe: Rot. Mary weiß das, Mary erklärt das, und Mary hat immer wieder Beweise für ihre These.

Megan ist ein solcher Beweis. Auch sie will das, was fast alle wollen: die Kanada-Kapuzenjacke. Natürlich in Rot. Nur: Rot ist in ihrer Größe ausverkauft. Mary, die Verkäuferin, gibt sich wirklich Mühe und preist die gelbe Variante an. Doch es ist so zwecklos, als wolle sie einem Vegetarier ein Pfund Hackfleisch schmackhaft machen. "Was soll ich mit Gelb", fragt Megan aufgebracht, "ich bin Kanadierin." Und die tragen eben Rot. Auf dem Kopf, am Körper und vor allem an den Händen. Zum Wahrzeichen der Solidarität sind die roten Woll-Fäustlinge geworden. Zehn kanadische Dollar (umgerechnet rund sechs Euro) kosten die "red mittens". Sie sind mittlerweile Kult, und wer sie trägt, erfüllt den Auftrag der Organisatoren: "Wear your heart on your hands."

So bereiten sich die Kanadier auf ihre Spiele, ihre Sportler, ihre Erfolge vor. Es ist vielleicht nicht die ganz große Begeisterung für die olympische Idee, die sich in Vancouver breitgemacht hat, die generelle Sportbegeisterung der Menschen schlägt aber voll durch. Auch beim Ticketverkauf, der so gut gelaufen sein soll, dass Sorgen über unbesetzte Tribünen unbegründet sind. Selbst für die tägliche Medal-Ceremony auf dem BC Place sind nur noch Restkarten zu bekommen.

Dazu wird die Innenstadt, wo noch der Alltag tobt, herausgeputzt für die Besucher, die nun kommen. Die legendäre Steam Clock, die dampfbetriebene Uhr im Stadtteil Gastown, wird geschliffen und poliert, die Live-City Downtown, eine Art Public-Viewing-Bereich im Zentrum, wird hergerichtet, und am Abend leuchten seit Wochen die olympischen Ringe auf einem Schiff im Hafen Burrand Inlet. "Wir werden", da ist sich Jacques Rogge sicher, "16 Tage pure Magie erleben."

Der Frust bleibt im Rahmen

Die Euphorie des Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees hat sicher mit der bevorzugten Lage Vancouvers zu tun, noch viel mehr allerdings damit, dass es nach den turbulenten Tagen von Peking mit viel Kritik und endlosen politischen Diskussionen nun wieder Olympische Spiele gibt, die sich selbst genügen und nicht für politische Botschaften missbraucht werden.

"Peking war keine leichte Zeit", sagt der Belgier, "jetzt freue ich mich auf Vancouver." Denn Vancouvers Probleme sind, mal abgesehen vom Schneemangel am Cypress Mountain, gewissermaßen die üblichen. Finanziell müssen sich die Organisatoren ordentlich strecken - nur mit viel Mühe soll am Ende ein ausgeglichener Etat stehen.

Und dann sind da noch die, die es immer gibt, wenn in Großveranstaltungen wie Olympische Spiele investiert wird: die Gegner. Die einen beklagen, die immensen Ausgaben wären an anderer Stelle viel sinnvoller gewesen, zum Beispiel bei der Bekämpfung der in Vancouver überdurchschnittlich verbreiteten Obdachlosigkeit, die ebenfalls das Stadtbild prägt. Die anderen haben im Sinne der generellen Ablehnung das Olympic Resistance Network (ORN) und den Verein No 2010 gegründet. Am Freitag wollen sie direkt vor der Eröffnungsfeier noch einmal demonstrieren. "Wenn sie uns schlagen, während wir friedlich protestieren", sagt die ORN-Chefin Alissa Westergard-Thorpe, "dann könnten die Dinge eskalieren." Doch so weit wird es nicht kommen.

Auch deshalb nicht, weil John Furlong und sein Team schon seit der Bewerbung der Stadt auf eine integrative Note gesetzt haben. Die Gegner der Spiele, besonders aber auch die kanadischen Ureinwohner sollten beruhigt werden. Vier Stämme, die "Four Host First Nations", wurden in die Organisation eingebunden. Sicher, auch in diesem Punkt gab und gibt es Konflikte, Enttäuschte und Verärgerte, aber der Frust bleibt insgesamt im Rahmen.

Und so hofft John Furlong nicht nur auf erfolgreiche 16 Tage, sondern auch darauf, dass die flächenmäßig zweitgrößte Nation der Welt durch die Spiele zusammengebracht wird. Das Zusammenleben, findet der Organisationschef, sei verbesserungsfähig. "Es gibt Teile von Kanada, die näher an Europa sind als an Vancouver", erklärt er. Und mit viel Pathos in der Stimme fügt er hinzu: "Wir glauben, dass die Olympischen Spiele eine Nation einen können." Ob er in zwei Wochen noch an den Wettergott glaubt, ist dagegen eher unwahrscheinlich.