Sicherheit über alles: Die High School in North Brunswick, New Jersey Foto: Weißenborn

Nach blutigen Schießereien setzen Schulen in den USA auf zahlreiche neue Sicherheitsmaßnahmen

North Brunswick - Wenn sich ein Bewaffneter der Schule nähert, sind die Lehrer angewiesen, das Licht in den Klassenzimmern zu löschen und die Schüler einzuschließen. Am besten kauern sich die Schüler an den Wänden nieder, die einem Beschuss standhalten würden, heißt es. Außerdem warnen die Pädagogen ihre Schützlinge: Leuchtende Handys könnten sie leicht zur Zielscheibe machen. Gleichzeitig geht sofort eine Alarmmeldung an die örtliche Polizei hinaus. „Und die ist darauf trainiert, die Gefahr so schnell wie möglich zu neutralisieren“, den Schützen also notfalls zu töten, berichtet Michael Misurell, Sicherheitschef des Schulbezirks von North Brunswick, einer ethnisch gemischten 41 000-Einwohner-Mittelklassestadt, gut 40 Autominuten südlich von New York City im US-Ostküstenstaat New Jersey.

Eine Karte mit Schul-Schießereien in den USA seit Anfang 2013


Schul-Schießereien in den USA 2013/14 auf einer größeren Karte anzeigen

Nach Schulmassakern insbesondere an der Columbine High School in Colorado 1999 und an der Sandy Hook-Grundschule in Connecticut 2012 gehören Sicherheitsdrills wie die Abriegelung einer Schule zum Schulalltag. Schulverwaltungen im ganzen Land haben gemeinsam mit der örtlichen Polizei detaillierte Sicherheitspläne ausgearbeitet und teilweise Millionen Dollar investiert, um ihre Schulen mit elektronisch kontrollierten Eingängen, Panikschaltern und Kameras aufzurüsten. „Zum Glück ist uns der Ernstfall an der North Brunswick Township High School bisher erspart geblieben“, berichtet Schuldirektor Pete Clark. Aber während er das sagt, lauscht der freundliche 60-Jährige mit einem Ohr dem krächzenden Funkverkehr seiner sechs „Sicherheitshelfer“, die in ihren giftgrünen Jacken und Walkie-Talkies gut sichtbar über das Schulgelände patrouillieren. „Das sind die Augen der Schule“, meint Clark.

Nur einmal bisher, 2008, war es keine Übung, sondern wurde auch ohne direkte Gefahr für die Schule ernst: Am nahen Highway 130 ging ein Drogen-Deal übel aus, bei einer Schießerei wurde ein Mann getötet. Da wurde die High School mit ihren 1850 Schülern und den 180 Lehrern und Mitarbeitern vorsichtshalber abgeriegelt.

Newtown rüttelt auf

Insbesondere nach der Tragödie an der Grundschule von Newtown, Connecticut, wurden alle Sicherheitsmaßnahmen an New Jerseys Schulen noch einmal überprüft und verstärkt. Im Dezember 2012 hatte ein 20-Jähriger an einem Freitagmorgen ohne erkennbares Motiv durch ein Schulfenster in der Nähe des verschlossenen Schuleingangs geschossen, bevor er 20 Grundschüler und sechs Lehrer tötete. „Nach Columbine konzentrierten wir uns auf Gefahren aus der Schulgemeinde selbst, nach Newtown ging es eher um die Gefahr von außen“, erzählt Misurell, pensionierter Polizei-Captain von North Brunswick, der auch mal bei der New Yorker Polizei gearbeitet hat.

Der Ex-Cop ist immer noch mit Leib und Seele Polizist. Studien und Zahlen zu Gewalttaten an Schulen purzeln dem 56-jährigen mit dem schütteren Haar und dem grauen Schnauzer nur so aus dem Kopf. Was Misurell beunruhigt: „Es gibt kein genaues Täterprofil. Das können Frauen, Reiche, Arme, Schwarze oder Weiße sein.“ Klar ist immerhin: „In den meisten Fällen versucht ein Schütze nicht, verschlossene Türen aufzubrechen“, sagt er.

Deshalb wurde der Campus der North Brunswick High School praktisch dicht gemacht: Vor Jahren noch ein völlig offenes Schulgelände mit Dutzenden von Eingängen, sind es heute zu Beginn eines jeden Schultags nur noch vier, an denen die Schüler von Bediensteten in Empfang genommen werden. Hat die Schultag einmal angefangen, gibt es nur noch einen einzigen Haupteingang. Der wurde mit kugelsicherem Glas und einem Buzzer, einer elektronischen Türverriegelung, ausstaffiert. Diese wird von einem neu angestellten pensionierten Polizisten bedient, der die Identität jedes Besuchers mit Hilfe elektronischer Datenbanken abgleicht und einen selbstklebenden Besucherausweis mit Foto aushändigt. Die Lehrer überprüfen bei der Anwesenheitskon-trolle auch die Schülerausweise. Innerhalb und außerhalb des Schulgeländes wurden noch mehr Kameras installiert. Von seinem Container-Büro auf dem Schulgelände kann Misurell jederzeit live in alle Schulen North Brunswicks schauen. Und alle Streifenwagen können das ebenfalls. Unverhohlen stolz ist der Ex-Cop auf diese Sicherheitsmaßnahmen: „Es mag wie eine Schule aussehen, aber in Wahrheit ist es eine Festung“, platzt es aus ihm heraus.

Übungen so realistisch wie möglich

Jeden Monat findet – gesetzlich vorgeschrieben – neben einer Feuerschutzübung noch eine weitere Sicherheitsübung statt. Das kann eine Abriegelung sein, eine Evakuierung bei Bombenalarm oder eine Übung mit einem aktiven Schützen. Und die versucht Sicherheitschef Misurell so realistisch wie möglich zu gestalten: „Da ziehe ich auch schon mal den Feueralarm oder lasse ein Mädchen an der verriegelten Klassentür kreischen, um zu sehen, ob der Lehrer die Tür auch wirklich verschlossen hält“, berichtet er. In Planübungen lässt er Lehrer unter Zeitdruck auch härteste Entscheidungen üben: Kollegen müssen sterben, damit Schüler überleben.

Die Englischlehrerin Amy Rafano fühlt sich mit den neuen Sicherheitsmaßnahmen in ihrer Schule wohler. „Es beruhigt mich, dass Fremde jetzt einen Besucherausweis tragen“, sagt sie. Und: „Die Abriegelungsübungen gehören heute einfach dazu wie früher die Duck-dich-und-bedeck-dich-Übungen“, meint sie in Anspielung auf die Luftschutzübungen in der Zeit des Kalten Krieges. Auch für ihre Schüler seien die 20-minütigen Unterrichtsunterbrechungen längst Routine und alles andere als angsteinflößend.

Die Lehrerin nutzt die Sicherheitsübungen aber auch für den Unterricht. „Ich rede mit den Schülern darüber: ,Was, wenn es echt wäre‘.“ Viel zu viele Kinder würden in Amerika durch Waffen sterben, meint sie resigniert. Ihr Vater ist ein passionierter Jäger, sie selbst ist mit Waffen groß geworden. Und dennoch spricht sie sich für strengere Waffenkontrollgesetze aus.

Wieder viele Male blutiger Ernst

In den 15 Monaten seit dem Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown wurde aus den Übungen schon wieder in Dutzenden Fällen blutiger Ernst: Mindestens 57 Schießereien wurden an Schulen und Colleges in den USA seit Dezember 2012 gezählt – im Schnitt mehr als drei pro Monat. Dabei starben 31 Menschen und mehr als 40 weitere wurden verletzt. Das ergab einer Analyse von „Bürgermeister gegen illegale Waffen“ und „Mütter fordern einen sinnvollen Umgang mit Waffen“, Gruppen, die für schärfere Waffengesetze kämpfen und beklagen, dass die Parlamente in Washington und den Einzelstaaten zu wenig dafür tun.

Schuldirektor Clark hält Sicherheitsvorkehrungen wie die Überwachungskameras und die Zugangskontrolle für angemessen, um seine Schule vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und auch die Abriegelungsdrills könnten dazu beitragen, dass sich die Schüler im Ernstfall sicher, ruhig und organisiert verhielten, meint er. Gerne hätte er noch mehr Kameras und Sicherheitshelfer. „Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es aber nicht. Man kann nur versuchen, die Folgen zu minimieren“, meint der Pädagoge. „Die Gesellschaft macht eben auch vor unseren Schulen nicht Halt.“ Wichtig sei ein Frühwarnsystem, bei dem im Falle von Verhaltensauffälligkeiten eines Schülers rasch ein Krisenteam aus Lehrern, Psychologen und Sozialarbeitern eingreift.

Anders als etwa in manchem Landstrich im Süden der USA, wo auch die Lehrer bewaffnet an die Schule kommen dürfen, sind die Schulen in North Brunswick nach einem Beschluss des Schulaufsichtsrats offiziell „waffenfrei“. Bringt ein Schüler auch nur eine Spielzeugwaffe mit in die Schule, führt das zum unbefristeten Schulausschluss. Ex-Cop Misurell macht allerdings keinen Hehl daraus, dass er seine Sicherheitsleute gerne mit Waffen ausstatten würde und macht klar: „Wenn es nötig wird, hätte ich ruckzuck ein paar Männer mit Waffen beisammen.“ Mit anderen Worten: Er hat schon jetzt Waffen in Griffweite.

Eltern über bewaffnete Ex-Cops besorgt

Das wiederum löst bei manchen Eltern Unbehagen aus. Eine Mutter, deren 17-jähriger Sohn und die 14-jährige Tochter an die High School gehen, hält es für keine gute Idee, dass pensionierte Polizisten an der Schule ihrer Kinder inoffiziell Waffen tragen. „Die sind nicht mehr aktiv, nicht mehr so fit und überhaupt: Was genau ist ihre Verantwortung?“ Besonders beunruhigend findet die blonde Frau das Szenario, dass sich ein paar Jugendliche zusammenrotten, um den Sicherheitsleuten ihre Waffen zu entwenden. Im Großen und Ganzen hält die engagierte Mutter die Schule ihrer Kinder aber noch für eine sichere Umgebung. „Aber wäre sie im Ernstfall wirklich besser vorbereitet“, fragt sie zweifelnd. „Es gibt so viele verstörte junge Leute, die viel zu leicht an Waffen herankommen.“