Sie schweigt, er redet viel: Die beiden Hauptangeklagten, zwischen ihnen sitzen ihre Verteidiger, sind vor Gericht ganz unterschiedlich aufgetreten. Foto: AFP

Das Landgericht Freiburg verurteilt die beiden Drahtzieher im Staufener Missbrauchsfall zu hohen Haftstrafen. Auch die Mutter hat ohne Mitgefühl für das gequälte Kind gehandelt.

Freiburg - Sie kümmert sich noch um ihn. Mitten in der anderthalbstündigen Urteilsverkündung, genau genommen bei Tat Nummer 27, einer von Dutzenden, einer der grausigsten, sucht Berrin T. den Blickkontakt zum mitangeklagten Christian L. Bis dahin hatte die untersetzte 48-Jährige im unförmigen blauen T-Shirt scheinbar teilnahmslos ein Bonbon nach dem anderen in sich hineingestopft, während die Zuhörer im Saal des Landgerichts Freiburg allesamt aussahen, als stecke ihnen ein Kloß im Hals. Nun bedeutete sie ihrem Ex-Freund (39) mit hochgezogener Augenbraue und einem kurzen Fingerzeig: „Willst du auch?“ Er nickt unauffällig. Sie gibt das Bonbon über die beiden Verteidiger, die zwischen ihnen sitzen, weiter an ihn.

Genau so haben sie funktioniert als Team während des mehr als zwei Jahre langen Martyriums von Samuel (Name geändert), Berrin T.s heute zehnjährigem Sohn, den sie von Mai 2015 an gemeinsam misshandelten und vergewaltigten, den sie gegen Geld Pädosexuellen überließen und von dessen Leiden sie Unmengen an Bildern und Videos anfertigten, die immer noch unkontrollierbar durchs Darknet geistern. Berrin T. las ihrem pädophilen Freund die Wünsche von den Augen ab. Später, als sie schon eingespielter waren, kam er mehr und mehr aus der Deckung, schrieb über Whatsapp detaillierte Regieanweisungen für den Missbrauch, die sie daheim an ihrem wehrlosen Kind in die Tat umsetzte. Und sie ließ es zu, dass fremde Männer (fünf insgesamt) ihren eigenen perversen Film an ihrem Kind auslebten.Bei Tat Nummer 27 im August 2017 saß Berrin T. mit Christian L. im Wohnzimmer – in Hörweite, wie der Richter den umfangreichen Dokumentationen entnahm. 20 Minuten dauerte die Tortur für den an Händen und Füßen gefesselten Jungen. Der Mann tat Dinge, die ausdrücklich nicht mit den beiden abgesprochen waren. Samuel schrie vor Schmerzen. Keiner schritt ein. Seine Mutter blieb bei ihrem Lebensgefährten sitzen. Mit ihrem Kind, sagte Christian L. im Prozess aus, sei Berrin T. grob und lieblos umgegangen. Um ihn selbst dagegen habe sie sich aufopferungsvoll gekümmert. Als das Paar vorübergehend auf Distanz gehen musste, weil die Führungsaufsicht des einschlägig Vorbestraften auf seine andauernden Besuche bei der Familie aufmerksam wurde, schickte sie ihm per Taxi Essen.

Geld war genügend da

Geld war ja da. Der 33-jährige Spanier etwa, den Christian L. mit Bildmaterial im Darknet angefixt hatte, zahlte Tausende von Euro, um sich an dem Kind vergehen zu können. „Onkel Luke“ – wie das Opfer ihn nennen musste – gehörte fast zur Familie. Ein Bild von allen vieren beim von ihm gesponserten Besuch im Europapark Rust hing zu Hause in Staufen an der Wand. So reibungslos und lukrativ lief es mit ihm, dass sogar angedacht war, auf Dauer zusammenzuleben – in einem vom Spanier bezahlten Häuschen. Ein bis heute anonymer Hinweisgeber machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er meldete die Vorgänge im Darknet der Polizei und half, dem Paar eine Falle zu stellen. Als er am 16. September 2017 zum verabredeten gemeinschaftlichen Missbrauch anrückte, klickten die Handschellen.

Zum Urteil erschien Christian L. mit einer Holzkreuz-Kette

Rund elf Monate später sind die beiden Drahtzieher in einem der fürchterlichsten Missbrauchsfälle der deutschen Kriminalgeschichte verurteilt worden. Zwölf Jahre in Haft muss Christian L., der mit Abstand am häufigsten über das Kind herfiel. „Ein- bis zweimal pro Woche“ soll das seiner eigenen Aussage nach gewesen sein. Er profitierte allerdings von der Kronzeugenregelung, die eine deutliche Strafminderung im Gegenzug für seine Aufklärungshilfe bedeutete. Die anschließende Sicherungsverwahrung, die das Gericht aufgrund der „schicksalhaften und angeborenen pädophilen Neigung“ des bei einer Vergewaltigung gezeugten und selbst als Kind missbrauchten Mannes anordnete, hatte Christian L. zuvor selbst gefordert. „Das ist durchaus ungewöhnlich“, sagt die Staatsanwältin Nikola Novak. Aber es passt zu seinem Auftreten während der gesamten Verfahrenszeit. Vom ersten Prozess an gab er den Geläuterten (zum Urteil erschien er mit einer Holzkreuz-Kette um den Hals). Wichtigtuerisch machte er Notizen, korrigierte Details, tat, als sei er sein härtester Ankläger. Auch ihm dürfte von Prozessbeginn am 11. Juni an klar gewesen sein: Wenn jetzt noch etwas seine absehbare Strafe schmälern kann, dann die unbedingte Kooperation. Selbstverständlich war diese aus der Sicht des Vorsitzenden Richters Stefan Bürgelin dennoch nicht: Er hob sie beim Urteil mehrfach hervor.

Ganz anders Berrin T., die zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt wurde – und das bereits am Dienstag akzeptiert hat: der höchste Grundstrafrahmen von allen im Staufen-Fall Verurteilten. Der Richter macht diese Entscheidung vor allem an einer Tat fest. Eine Tat, die Berrin T. ganz alleine beging und aufzeichnete. Christian L. konnte glaubhaft versichern, dass er das Video im Prozess zum ersten Mal sah. In diesem Film, so Bürgelin, missbrauche Berrin T. das Kind mit einem Hilfsmittel so schwer, dass es über 30 Sekunden lang Schmerzensschreie ausstieß: „Trotz des vielen Materials, das uns vorlag, haben wir kein anderes Video gesehen, das für Samuel so schmerzhaft war.“Die Motive der Mutter? Auch dem psychiatrischen Gutachter gab die 48-Jährige keinen wirklichen Einblick. Eine Sicherungsverwahrung aber sei bei Berrin T. als Ersttäterin, die laut Gutachter keine Pädophile ist, nicht in Betracht gekommen, betonte der Richter. Sie habe keine krankhafte seelische Störung und sei auch voll schuldfähig. Ja, sie habe zu Christian L., dem „Initiator des Gesamtsystems“ aufgeblickt, aber hörig sei sie ihm nicht gewesen. Dazu war ihre Rolle zu aktiv. Nicht öffentlich habe Berrin T. nur das Allernötigste ausgesagt, so Bürgelin, der die Frau als „unterdurchschnittlich intelligent, aber sehr durchsetzungsstark“ beschreibt.

Nicht-öffentlich hat Berrin T. nur das Nötigste ausgesagt

Genau an dieser Stelle zeigt Berrin T. ihre einzige emotionale Regung am letzten Verfahrenstag: Sie runzelt die Stirn, als der Richter über ihre „begrenzten kognitiven Fähigkeiten“ spricht. Das passt ihr nicht. Verbucht es die im Leben auf ganzer Linie gescheiterte Arbeitslose auf ihrer Haben-Seite, dass sie das Jugendamt und die Familienrichter monatelang an der Nase herumführen konnte? Die Arbeitsgruppe von Justiz und Jugendamt will ihre Erkenntnisse zum Versagen der beteiligten Behörden im September öffentlich machen. Bisher jedenfalls folgte nicht die kleinste Konsequenz. Nicht einmal wurde der Sachbearbeiter beim Jugendamt des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald, der mit der im Frühjahr 2017 dringend gebotenen Inobhutnahme des Kindes kläglich scheiterte und Warnhinweise der Lehrerin einfach aussaß, von dem Fall abgezogen. Er ist immer noch für das Kind zuständig.

Samuel, sagt seine Anwältin Katja Ravat, wird von dem Urteil erst nach seinem Urlaub erfahren. Gerade sei er mit anderen Kindern auf einer Reise. Über seine Mutter rede das Kind nicht – noch nicht. Die Polizistin, die als Erste das Vertrauen des Jungen gewinnen konnte, werde mit ihm in Kontakt bleiben. Sie soll da sein, wenn er den wichtigen Schritt macht, über das zu sprechen, was ihm angetan wurde. Eines aber hat er schon gesagt: Er wünscht sich „lange Haftstrafen für alle Täter“, zitiert Ravat: „Damit kein Kind mehr das erleben muss, was ich erlebt habe.“