Eine Hartz-IV-Empfängerin überweist einem Mann sehr viel Geld, weil sie sich ein gemeinsames Leben mit ihm erhofft. Das Jobcenter fordert daher die Grundsicherungsleistungen zurück. Das geht nicht – urteilt das baden-württembergische Landessozialgericht.
Stuttgart - Es ist für Außenstehende schwer bis gar nicht zu verstehen, wie man auf einen Heiratsschwindler hereinfallen kann. Dafür müsste man sich wohl in die konkrete Situation der Betroffenen hineinversetzen. Doch ist dies einer 62-Jährigen aus dem Landkreis Heilbronn passiert.
Insgesamt 24 000 Euro hat sie dem Mann von November 2016 bis Januar 2017 gezahlt – aus dem Erbe der Mutter, wie sie sagt, und in der irrigen Annahme, sie könne sich mit ihm ein gemeinsames Leben aufbauen. Sie hat ihm das Geld nicht einfach gegeben, sondern auf Konten des sich in Großbritannien aufhaltenden Mannes überwiesen. Dieser hatte ihr vorgegaukelt, er sei in einer finanzielle Notlage, und versprach, das Geld bald zurückzugeben. Einen schriftlichen Darlehensvertrag gibt es offenbar aber nicht.
Ohne Darlehensvertrag viel Geld ins Ausland überwiesen
Allerdings lebt die 62-Jährige etwas außerhalb der Ludwigsburger Kreisgrenzen selbst von geringen Einkünften. Nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau war sie im Jahr 2010 als Empfangskraft und bis März 2015 im Kundenservice beschäftigt. Seit Dezember 2014 vertreibt sie Nahrungsergänzungsmittel auf Provisionsbasis. Folglich musste sie Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II beantragen und verwies auf den nicht möglichen Zugriff auf die nach Großbritannien transferierten Gelder. So wurde der Antrag bewilligt.
Allerdings gewährte das Jobcenter der Frau von Februar 2017 an die monatlich knapp 770 Euro nur vorläufig. Mit einem weiteren Bescheid machte es einen unbezifferten Ersatzanspruch deutlich – mit der Begründung: Die Frau habe ihr Vermögen durch die Überweisungen ins Ausland vermindert, ohne die Rückzahlung abzusichern. Wer seit einem Jahr keine Einnahmen mehr erziele, keine Erwerbstätigkeit in Aussicht habe und dennoch sämtliche Ersparnisse ins Ausland transferiere, um einen Monat später einen Antrag auf Hartz-IV-Leistungen zu stellen, handle grob fahrlässig. Unter Zugrundelegung eines aktuellen monatlichen Bedarfs hätten die 24 000 Euro immerhin 31 Monate zur Deckung des Lebensunterhalts gereicht, hat das Jobcenter errechnet. Daher sei sie verpflichtet, die erbrachten Grundsicherungsleistungen auszugleichen.
Gericht: Frau hat nicht sozialwidrig gehandelt
Die Frau klagte dagegen erfolglos vor dem Sozialgericht Heilbronn. So landete der Fall beim Landessozialgericht – hier wurde die Forderung des Jobcenters zurückgewiesen. Der Ersatzanspruch setze ein sozialwidriges Verhalten voraus, befand der neunte Senat. Die Frau habe sich aber nicht sozialwidrig verhalten. Anders wäre es gewesen, wenn sie die Hilfebedürftigkeit absichtlich herbeigeführt hätte. Es sei jedoch generell keine staatliche Aufgabe zu prüfen, ob die Bedürftigkeit nachvollziehbar, naiv, unbedacht oder moralisch verwerflich entstanden sei.
Für einen Versuch arglistiger Täuschung liegen demnach keine Anhaltspunkte vor. Vielmehr sei die Frau offenbar selbst Opfer einer Straftat geworden, befand das Landessozialgericht. Auch wenn sie hätte misstrauisch werden müssen und das drehbuchartige Vorgehen des Mannes durch eine Internetrecherche hätte erkennen können, sei sie nicht allein darauf hereingefallen. Denn charakteristisch für Betrugsopfer sei es wohl, dass deren Verhalten im Nachhinein objektiv nicht nachvollziehbar sei. Sozialwidrig sei das Verhalten der 62-Jährigen aber nicht.
Zudem sei das Jobcenter nicht ermächtigt gewesen, vorab den Ersatzanspruch zu stellen. Das Stuttgarter Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, denn das Jobcenter kann dagegen Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht einlegen.