Ein kleiner Junge, versunken im stillen Gebet. Foto: Mizina/Fotolia72557242

7,3 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Die meisten von ihnen gehören einer Religion an. Doch auch wer sich als areligiös bezeichnet, glaubt an irgendetwas. Ohne Glaube geht’s nicht.

Stuttgart - „Wir sind eine Gang, eine jesusmäßige Familie. Uns verbindet die erlebte Liebe unseres genialen Gottes. Er demonstriert an einem Haufen völlig unterschiedlicher Freaks, dass er durch Ergänzung Einheit in gigantischer Vielfalt schaffen kann.“ Dieses Glaubensbekenntnis stammt von den Jesus Freaks, einer 1991 in Hamburg gegründeten christlichen Glaubensbewegung mit rund 2000 Mitgliedern. Sie wollen „Freaks, Punks, Hippies und Szeneleuten“ eine spirituelle Heimat bieten, in der sie „sich wohlfühlen“.

Liebe, Friede und Jesus Christus

„Love, Peace and Jesus Christ“ (Liebe, Frieden und Jesus Christus) ist die Botschaft aller christlichen Gemeinschaften. Mit fast 2,3 Milliarden Anhängern ist das Christentum vor dem Islam (1,6 Milliarden) und dem Hinduismus (900 Millionen) die am weitesten verbreitete Religion. Der Glaube an Jesus eint schätzungsweise 30 000 christliche Kirchen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Kleine Gruppen wie die Kirche der Jünger Christi (700 Mitglieder), die Alt- Katholische Kirche der Mariaviten in Polen (29 000) oder die Christliche Kirche von Pasundan (33 000) gehören genauso dazu wie große Bekenntnisgemeinschaften – etwa die Evangelische Kirche in Deutschland (26 Millionen) oder die Römisch-Katholische Kirche (rund 1,2 Milliarden Anhänger).

Stramme Atheisten wie Karl Marx (1818–1883) sehen Religion als „Opium des Volkes“. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) propagierte den „Tod Gottes“. Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins (74) wendet sich „gegen Gott, alle Götter, alles Übernatürliche, ganz gleich, wo und wann es erfunden wurde oder noch erfunden wird“. Doch allen Zweifeln und Zweiflern zum Trotz ist der Glaube eine Grundhaltung des Vertrauens, die dem Menschen in die Wiege gelegt ist. Etwa 100 000 Religionen hat es im Laufe der Menschheitsgeschichte gegeben. Allen Zweiflern zum Trotz: Glaube und Religion sind bis heute nicht aus der Welt zu kriegen.

Wer fragt und sucht, der glaubt schon

Um zu glauben, bedarf es indes keiner Religion oder Andacht. Wer ein Weltbild hat, das zu leben lohnt, ist bereits ein Glaubender. Man kann an die Existenz außerirdischer Intelligenz genauso glauben wie an die Magie der Zahlen oder an die Macht der Vernunft. Religion kommt dann ins Spiel, wenn es einen Bezug zum Transzendenten gibt – etwas, was die sinnlich wahrnehmbare Welt übersteigt. Der Glaubende fühlt sich mit einer höheren Macht verbunden, die sich ihm aus dem Jenseits mitteilt.

Religiöser Glaube beruht auf der Erfahrung des Göttlichen. Dabei ist es unerheblich, ob diese Erfahrung real oder imaginär ist. Wissenschaftlich beweisen lässt sich die Existenz Gottes (Monotheismus) oder der Götter (Polytheismus) ohnehin nicht.

Wann die ersten Religionen entstanden sind, ist unter Anthropologen, Ethnologen und Religionswissenschaftlern umstritten. Möglicherweise kam der Glaube schon vor mehreren Hunderttausenden Jahren in die Welt. Nicht in Gestalt von steinernen Gesetzestafeln oder heiligen Büchern, die jemand im Wüstensand fand, sondern im Zuge eines sich langsam entwickelnden Totenkultes. Bestattungsrituale bildeten die Anfänge des Glaubens. Dabei ist es bis heute geblieben. Begräbnisriten versinnbildlichen den Übergang vom Diesseits ins Jenseits. Religiöse Zeremonien dienen dazu, die Glaubensbotschaft erlebbar und greifbar zu machen.

Brutale und intrigante Götter

Von Neandertalern weiß man, dass sie bereits vor rund 60 000 Jahren ihre Toten bestatteten. Zu Beginn der Jungsteinzeit vor 11 000 Jahren begann der Aufstieg des Götterglaubens. Aus Jägern und Sammlern wurden Bauern und Viehzüchter. Je komplexer das Dasein im Diesseits wurde, desto üppiger ausgestattet dachte man sich das Jenseits. Bald bevölkerten ganze Göttergeschlechter den Himmel und handelten so brutal und intrigant wie die Sterblichen.

Sagen und Mythen rankten sich um die göttlichen Mächte, denen in Ritualen, Zeremonien und Festen gehuldigt wurde und die um Beistand angerufen wurden. Die ersten Tempel entstanden, welche von Priesterkasten gehütet wurden. Ältester bekannter Ort sakraler Verehrung ist Göbekli Tepe in der Südtürkei, eine 11 000 Jahre alte prähistorische Steinkreisanklage, die der Totenverehrung gedient haben könnte.

Rund 2000 Jahre später bestatteten die Bewohner Jerichos, einer frühen Siedlung im heutigen Israel, ihre Toten unter den Fußböden ihrer Häuser. Aus diesen kultischen Anfängen entstanden die ersten Gesetzeswerke wie der berühmte „Codex Hammurabi“, eine Sammlung von Rechtssprüchen aus dem antiken Mesopotamien. Der rund 3800 Jahre alte Text ist in eine 2,25 Meter hohe schwarze Diorit-Stele eingemeißelt, die sich im Pariser Museum Louvre befindet.

Machtvolle therapeutische Ressourcen

Psychologisch betrachtet hat der Glaube ein enormes Sinnpotenzial: Er hilft äußere und innere Ereignisse besser zu verarbeiten. In Glaubenserfahrungen liegen machtvolle therapeutische Ressourcen. Auch wenn der Glaube kein Garant für ein gelingendes und langes Leben sei, setze ein positiver Glaube doch Kräfte frei, die „über eine Placebo-Wirkung hinausgehen“, betont der evangelische Religionspsychologe Michael Utsch.

Dass vor allem eine strengreligiöse, moralisierende Erziehung zu Neurosen führen kann, ist nicht erst seit Sigmund Freud (1856–1939) bekannt. Aus der spirituellen Ressource kann auch eine psychosomatische Hypothek werden. Utsch: „Nur diejenige Glaubenshaltung ist gesundheitsförderlich, die sich aus einer positiven und herzlichen Gottesbeziehung entwickelt.“

An die Stelle kollektiver Gewissheiten und unverrückbarer Wahrheiten tritt immer mehr die persönliche Entscheidung. Die Individualisierung der religiösen Landschaft hat einen spirituellen Flickenteppich, eine Patchwork-Religiosität zur Folge. Man wählt aus den Sinnangeboten jene aus, die cool sind. So kann man gleichzeitig die Ethik der Bergpredigt bewundern und an die Wiedergeburt glauben, in den Gottesdienst gehen und eine Esoterik-Messe besuchen. Buddha und Jesus, Wallfahrten und Zen-Meditation sind kein Widerspruch mehr.

Der Mensch als „Sinnbastler“

Der Mensch sei „ein Sinnbastler“, betont der Münchner evangelische Theologe Friedrich Wilhelm. Seine religiöse Bastelmentalität kann er indes nur entfalten, wenn die Religionsfreiheit als Grundrecht anerkannt ist. Preußenkönig Friedrich II. (1712–1786) fasste dieses Postulat in den berühmten Satz: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“