Menschen in der Steinzeit konnten einfache Werkzeuge herstellen – aber wie kamen sie an das Wissen dafür? Foto: imago/Liuzhaoming

Einfache Steinwerkzeuge könnten vor Millionen Jahren immer wieder neu erfunden worden sein, ergibt eine aktuelle Studie. Das würde bisherige Annahmen auf den Kopf stellen, dass das Wissen weitergeben und so zum Grundstein unserer Kultur wurde.

Als Urmenschen vor Jahrmillionen in Afrika die ersten einfachen Werkzeuge aus Stein herstellten, könnten sie gleichzeitig den Grundstein für die menschliche Kultur gelegt haben. Zumindest war das in der Archäologie bisher eine gängige Annahme. Claudio Tennie, William Snyder und Jonathan Reeves aber zeigen nun in der Fachzeitschrift Science Advances, dass es auch ganz anders gewesen sein könnte: Spontan könnten die Menschen der Steinzeit diese Technik immer wieder neu erfunden haben, erklären die Forscher von der Universität Tübingen.

Gab es in der Steinzeit doch keine Werkzeugkultur?

Aber fangen wir vorne an. Die bisher gängige Theorie geht so: Selbst das Fertigen einer scharfen Steinkante, mit der man ein totes Tier aufbrechen und zerlegen kann, ist recht kompliziert. Sobald ein Mensch in der Steinzeit diese Technik entdeckt hatte, haben andere in seinem Clan und später vielleicht auch andere Gruppen diese Vorgehensweise beobachtet und dann nachgemacht. So entstand eine in der Archäologie als „Kultur“ bezeichnete Tradition, mit der man solche scharfkantigen Steinwerkzeuge herstellt.

Die ältesten so hergestellten Steinwerkzeuge sind 2,6 Millionen Jahre alt. Weil sie in der Olduvai-Schlucht im Norden des heutigen Staates Tansania entdeckt wurden, spricht man von einer Oldowan-Kultur. „Zur Herstellung solcher Werkzeuge schlägt man zum Beispiel zwei Kieselsteine so gegeneinander, dass von einem ein kleines Stück absplittert und eine relativ scharfe Kante hinterlässt“, erklärt Alexander Binsteiner, Archäologe und Spezialist für die Herstellung von Feuerstein-Werkzeugen, der nicht an der Tübinger Studie beteiligt war. An der unbearbeiteten runden oder ovalen Seite konnten solche Kieselsteine gut in die Hand genommen werden, um mit der scharfen Kante Fleischstücke abzuhacken oder einen Schenkelknochen zu spalten, um so an das nahrhafte Knochenmark zu kommen.

Heutige Menschen erfinden bei Experiment Steinzeit-Techniken

Mit einer guten Anleitung sollte das Herstellen solcher Hackwerkzeuge zwar durchaus möglich sein. Aber ist auch ein immer wieder neues Erfinden möglich? Das haben Claudio Tennie und seine Kollegen jetzt mit einem Experiment untersucht: Jeweils 14 erwachsene Frauen und Männer sollten auf sich alleine gestellt die mit einem Seil verschlossene Tür einer Kiste öffnen. Zwar wusste jede Person, dass in der Kiste ein Gutschein im Wert von zehn Euro lag, an den man nur kommen konnte, wenn man das Seil durchtrennte. Nur gab es keinerlei Hinweise, wie man das mit Hilfe einer Halbkugel aus bemaltem Glas, eines mittelgroßen Kieselsteins und einem Granitblock schaffen könnte.

Die meisten Frauen und Männer versuchten zunächst, das Seil ohne Schneide-Werkzeug zu öffnen, indem sie zum Beispiel mit dem Kieselstein auf das Seil schlugen oder versuchten, die Fasern mit den Fingern aufzudrehen. Blieb das erfolglos, versuchten sie meist rasch, aus den bereitgestellten Dingen eine primitive Klinge zu basteln. So schlugen sie die Glashalbkugel solange gegen den Granitblock oder den Kieselstein, bis ein Splitter absprang und eine scharfe Kante entstand, mit der sie anschließend das Seil durchtrennten.

In der Steinzeit-Forschung sind vier unterschiedliche Schlag-Techniken bekannt, mit denen Oldowan-Werkzeuge in der frühen Steinzeit hergestellt wurden. Obwohl 25 der 28 Versuchspersonen vorher noch nie solche Steinwerkzeuge in der Hand gehalten hatten, erfanden die meisten von ihnen zumindest eine dieser Techniken in den Versuchsräumen der Tübinger Universität neu. Und am Ende der Experimente hatten die Forscher sogar alle vier bekannten Altsteinzeit-Techniken der Oldowan-Kultur beobachtet. „Offensichtlich klappt das Herstellen von diesen einfachen Steinwerkzeugen auch ohne Vorbilder“, fasst Claudio Tennie dieses Ergebnis der experimentellen Archäologie zusammen.

Erfinderische Steinzeitmenschen, dir ihr Wissen nicht weitergaben

„Ich fand es schon immer ein wenig übertrieben, in diesem frühen Stadium der menschlichen Entwicklung bei den Oldowan-Steinwerkzeugen von Kulturen zu sprechen“, erklärt Alexander Binsteiner. „Anscheinend hatte die Gattung Homo schon früh das Bedürfnis und die Fähigkeit Geräte herzustellen, die den Alltag erleichtern“, überlegt der Feuerstein-Spezialist. Und weiter: „Daher sind solche Experimente, auch wenn sie wohl einige Kritik hervorrufen werden, ein wichtiger Mosaikstein beim Erforschen der menschlichen Natur“.

Aber auch wenn heutige Menschen, die in einer von sehr viel Technik geprägten Welt leben, zwar nicht das Rad, aber immerhin einfache Steinwerkzeuge neu erfinden, drängt sich die Frage auf, ob auch die in der Natur lebenden Urmenschen diese Eigenschaft hatten? Claudio Tennie glaubt das durchaus: „Die Oldowan-Technik gibt es bereits seit 2,6 Millionen Jahren, ohne dass wesentliche Änderungen auftraten“, erklärt der Forscher. „Man kann sich kaum vorstellen, dass ein solches Wissen um die Herstellung dieser Werkzeuge von Generation zu Generation weiter gegeben wurde, ohne dass es dadurch zu einer Akkumulation von Wissen gekommen ist.“ Viel naheliegender ist die Erklärung, dass die einfachen Steinwerkzeuge immer wieder neu erfunden wurden.