Und wieder landet das kleine Stuttgarter Studio-Theater einen Coup: Sechs Schauspieler bringen ebenso spannend wie bestürzend einen ganzen Wahlkampf auf die Bühne – sehr präzise nach der „Spiegel“-Reportage von Markus Feldenkirchen. Das hat das Zeug zum Hit!
Stuttgart - „Mansche!“ Und schon wieder hat der SPD-Kanzlerkandidat die Regeln vergessen. „Martin, noch mal!“ nölt deshalb der Regisseur des Wahlspots aus dem Hintergrund. „Manche“ soll Martin Schulz möglichst oft aufs Band sprechen, und zwar mit sauber hochdeutschem „ch“ statt mit jenem schlaffweichem „sch“, das dem Rheinländer aus Würselen viel näher liegt. „Mannn-chhh-e“ schafft er tatsächlich manchmal, aber das klingt dann grauenhaft hölzern und automatenhaft. „Locker, Martin, offener“, hört er dann die Regie. Also ist er wieder locker und offen: „Mansche“. Irgendwann gibt die Regie auf: „Versuch es doch mal mit ,einige’“.
Kann man aus einer Reportage, und mag sie noch so enthüllend sein, einen wirklich spannenden Theaterabend machen? Einen, der auch theatralisch überzeugt? Christof Küster, der künstlerische Kopf des Stuttgarter Studio Theaters hat es gewagt und die zu Recht preisgekrönte Reportage des „Spiegel“-Autors Markus Feldenkirchen über Aufstieg und Fall des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz auf die Bühne gebracht. Fünf Monate lang durfte Feldenkirchen 2017 den Schulz-Bundestags-Wahlkampf aus nächster Nähe beobachten, durfte hinter die Kulissen spicken, an internen Beratungen im Schulz-Team teilnehmen. In vielen Vier-Augen-Gesprächen hat sich der Politiker dem Journalisten ungewöhnlich offen mitgeteilt.
Der Politiker verliert seine Sprache
Herausgekommen ist aus alledem ein journalistisches Meisterstück, das bereits beim Lesen die ganze Dramatik des glanzvollen Aufstiegs und der schmählichen Niederlage von Martin Schulz schmerzhaft nachvollziehbar macht. Aber der Theatermann Christof Küster kann dem auf der Bühne tatsächlich noch ein Mehrfaches hinzufügen: Die Frage, wann bei der Suche nach der perfekten Performance ein Politiker im wahrsten Sinne des Wortes seine Sprache verliert, nämlich die eigene – dem Zuschauer könnte sich dieser Abgrund nicht klarer offenbaren wie in dieser Szene: „Mansche“. „Manche, Martin!“
Der Stuttgarter Schauspieler Sebastian Schäfer ist dank Friseur, Brille und Klamotten ein wirklich täuschend echter SPD-Politiker Martin Schulz geworden. Er und Moritz Brendel in der Rolle eines Reporters sind die beiden festen Rollen dieses Abends. Die übrigen vier Darsteller Schirin Brendel, Axel Krauße, Boris Rosenberger und Gundi-Anna Schick wechseln oft in Sekundenschnelle die Identitäten des übrigen Personals, von Andrea Nahles bis Hubertus Heil, von der Bundeskanzlerin bis zum Kieler Ministerpräsidenten, vom Wahlkampfmanager bis zur Händeschüttel-Arbeiterin auf der Wahlkampfreise.
So erlebt der Zuschauer in knapp drei Stunden ein ganzes langes, hochdramatisches Politjahr 2017, von der umjubelten 100-Prozent-Ja-Stimmen-Wahl des Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag über das Wahldebakel bis hin zum Quasi-Genickschuss durch Sigmar Gabriel, der ihn mit der legendären Interview-Sottise über den „alten Mann mit dem Bart“ in den Abgrund stößt. Und wieder einmal kann man im Studio Theater nur staunen, wie das alles auf winziger Bühne Gestalt bekommt – dank einer sinnreichen Ausstattung von Maria Martinez Pena, in der sich Stellwände, Tische, Stühle, Mikrofone, Plakate, Kaffeetassen und Gebäckteller zu immer neuen Szenen formen. Und wie sinnreich allein dieses Set ist: Ist das nicht genau das Bild unserer Politik? Ein immer gleicher Mix aus Stellwänden, Tischen, Stühlen, Mikrofonen, Tassen und Tellern?
Der Politstar wird zum Clown der „Heute-Show“
Der Abend ist nichts weniger als ein politisches Lehrstück zur Zeit. Wie kann es sein, dass ein Mann, der zu Beginn der Geschichte in der Bevölkerung enormes Ansehen genießt, am Ende zur Lachnummer der „Heute-Shows“ in den Medien wird? Was genau hat er falsch gemacht, und wann? Hat er sich von den falschen Leuten beraten lassen? Hat er sich vor allem zu viel beraten lassen? Hätte er mehr auf seine Spontanität vertrauen sollen, auf seine Authentizität? Hat er zu sehr auf Stimmungs-Umfragen geachtet? Hat er sich in Besprechungen zu oft vom Handy ablenken lassen? Hat die Partei ihn verraten? Hat Sigmar Gabriel ihn verraten? Hat er seine Kräfte zu früh verbraucht? Hat er sich zu schlecht ernährt?
All dies uns Betrachtern zugespitzt vor Augen zu führen stellt unweigerlich die Frage, worauf es in unserem zusehends gefährdeten politischen Betrieb eigentlich ankommt. Und wenn man diesem absolut kurzweiligen Abend überhaupt einen Vorwurf machen will, dann höchstens diesen: Dass bei all den Einflüssen und Faktoren, die hier zum geradezu tragischen Scheitern einer veritablen Politikerpersönlichkeit beitragen, ausgerechnet das Volk selbst mit seinen Wünschen und Hysterien außen vor bleibt. Auch bei der „Schulz-Story“ können wir uns Zuschauer wieder bequem in der Beobachterrolle zurücklehnen. Weil wir stets vom Ende her denken, lässt es sich leicht glucksen über das absurd-vergebliche Abstrampeln all derer, die ganz anderes im Sinn hatten. So rasselt der politische Betrieb vor unseren Augen immer weiter dem Abgrund entgegen. Aber wo geben wir selbst ihm denn eigentlich immer wieder einen Schubs dorthin? Diesen Punkt lässt Küster unbearbeitet.
Was nichts daran ändert, dass ein fulminantes Ensemble nebst Inszenierungsteam am Ende absolut verdient langen, begeisterten Applaus ernten. Einige Unsicherheiten der Spieler mit der enormen Textmenge werden sich bei kommenden Aufführungen noch legen, einige Szenenübergänge gelingen dann noch präziser. Wer mit dem Eindruck solcher Theaterabende nach Hause geht, dem ist um die Zukunft der ganzen Gattung nicht mehr bange. Eher schon, wenn um unsere politische Kultur geht.
Weitere Aufführungen zunächst bis zum 27. April.