Lust auf makabre Spiele: Szene aus „Fahrerflucht / Fluchtfahrer“. Foto: Stöß

Unter dem Titel „Fahrerflucht/Fluchtfahrer“ zeigt das Staatsschauspiel Stuttgart in der Spielstätte Nord eine Konfrontation zweier Stücke über Moral und Schuld.

Unter dem Titel „Fahrerflucht/Fluchtfahrer“ zeigt das Staatsschauspiel Stuttgart in der Spielstätte Nord eine Konfrontation zweier Stücke über Moral und Schuld.

Stuttgart - Einen kontinuierlichen theatralischen Blick seines Hauses auf Stuttgart und seine Geschichte versprach der neue Intendant des Schauspiels Stuttgart bei seinem Amtsantritt im Oktober. Armin Petras hält Wort: Unter dem Titel „Fahrerflucht/Fluchtfahrer“ erleben die Zuschauer in der Spielstätte Nord eine Konfrontation zweier Stücke, die auf ganz unterschiedliche Weise über Moral und Schuld reflektieren – am Beispiel dreier Kriminalfälle, die sich alle im Stuttgarter Norden abspielen –, ganz in der Nähe also des Spielorts am Pragsattel.

Eines ist an diesem Uraufführungsabend besonders bemerkenswert: Er ermöglicht die Wiederbegegnung mit Alfred Andersch, dem bedeutenden zeitkritischen Autor der deutschen Nachkriegsliteratur. Sein Hörspiel „Fahrerflucht“ aus dem Jahr 1958 beweist als erster Teil der Doppelproduktion, wie klug und bühnentauglich man bildstarke Erzählpassagen in knappe Szenen übersetzen kann. Mit feinen Strichen zeichnet Andersch vor dem Hintergrund des Unfalltods einer jungen Radfahrerin die persönlichen Geschichten dreier Menschen nach. Kunstvoll spiegelt er an ihnen die Traumata der Kriegsgeneration und ihre vergeblichen Versuche, sich mit den Segnungen des Wirtschaftswunders davon zu befreien.

Teil zwei des Abends stellt Philipp Löhles neues Stück „Fluchtfahrer“ vor. Als Reflex aus dem Heute blickt der Dramatiker auf das vor mehr als einem halben Jahrhundert erstmals ausgestrahlte Hörspiel. Löhle spinnt Motive weiter und überdreht sie mittels Groteske.

Da Regisseur Dominic Friedel die fünf Darsteller in beiden Stücken auftreten lässt, beziehen sich auch die Figuren teilweise aufeinander. „Fluchtfahrer“ spielt mit zwei im Raum Stuttgart bekannten Gewaltverbrechen, dem „Hammermord“ und dem Auftragsmord auf einem Reiterhof. Doch während Alfred Andersch seinem Personal viel Raum gönnt, sich seine Schuld und Ängste von der Seele zu reden, zelebrieren Löhles Figuren hemmungslose Skrupellosigkeit. Das tun sie, etwas typisiert wirkend, mit rabenschwarzem Aberwitz.

Beide Texte fordern einen Regisseur, der ihre sprachliche Kunstfertigkeit zu inszenieren versteht. Und: Darsteller, die vom fast statischen, aber ausdrucksstarken Spiel bei „Fahrerflucht“ im fliegenden Wechsel für Löhles „Fluchtfahrer“ den Modus des Exaltierten abrufen können. Beides erlebt man bei Dominic Friedels Inszenierung der Uraufführung.

Besonders bei „Fahrerflucht“ gelingen eindringliche Bilder der Verlorenheit. Auf dem Gipfel einer steilen Rampe, dem Symbol manch Atem beraubender Karriere während der 50er Jahre (Ausstattung: Karoline Bierner), thront ein Manager (Horst Kotterba; in „Fluchtfahrer“ später eine eiskalte Mutter). Emotionslos berichtet er von seiner Angst, von der Polizei erwischt zu werden, nachdem er auf der Flucht vor seinem tödlichen Krebs eine junge Frau totgefahren hat. Das Schweigen eines Tankwarts (gekonnt monoton als traumatisierter ehemaliger Frontsoldat: Robert Kuchenbuch) erkauft er sich mit einem Hundertmarkschein.

Besonders wandlungsfähig zeigt sich an diesem Abend die Schauspielerin Katharina Knap: In „Fahrerflucht“ erobert sie als Bankiersgattin Mary Lou hemmungslos Luxus mit freier Liebe und dubiosen Aktiendeals. Dagegen gefällt sie in „Fluchtfahrer“ als naive C&A-Verkäuferin Theresa, die schlagartig zur reichen Erbin und damit zum Mordopfer eines geldgierigen Quartetts aus Familie und Freunden wird.

Regisseur Friedel trifft den Löhle-Ton der verbalen Gewalt gut. Wie Zeugen in einer imaginären Gerichtsshow reiht er seine Figuren an der Rampe auf. Er lässt sie mit hektischen Phrasen über die geeignete Methode streiten, mit der Theresa ins Jenseits befördert werden soll. Zunächst wird sie verbal mit einem Brotmesser abgestochen. Als das nicht funktioniert, bittet das Opfer, das Messer wieder aus ihrem Rücken zu ziehen. Aber auch der Versuch, die Verkäuferin zu vergiften, scheitert. Da kann nur noch ein Auftragsmörder helfen. Den fünf Schauspielern merkt man die Lust an diesen makabren Spielen an. Falls sie je eines hatten, werden die Figuren am Ende den letzten Rest ihres Gewissens verzappelt haben.

Nächste Aufführungen: 22. und 29. 12., jeweils 20 Uhr; Karten: 07 11 / 20 20 90.