Die Schauspieler Steven Scharf (links) und Camill Jammal im Theaterstück „Unterwerfung“ im Deutschen Theater in Berlin Foto: dpa

In Karin Beiers Hamburger „Unterwerfung“ verführt Edgar Selge mit funkelndem Mutwillen. In Berlin legt der Stuttgarter Regisseur Stephan Kimmig den Helden aus Michel Houellebecqs Roman einfach nur aufs Krankenbett.

Berlin/Hamburg - Unterwerfung also. Ein schillernder Begriff. Man kann sich, man kann andere unterwerfen. Mit Gewalt oder mit Verführungskunst. Das Gefühl der Kapitulation vor dem Gegner ist womöglich eines der Erleichterung. Der Kämpfende unterwirft sich dem überlegenen Gegner im Krieg, in der Liebe unterwirft sich der Werbende der Umworbenen. Unterwerfung ist verbunden mit Verführung, etwas Schönem, etwas Verbotenem, einer Art süßen Sünde, wer weiß. Auch Michel Houellebecqs Hauptfigur, der Literaturwissenschaftler François, vollführt in dem Roman „Unterwerfung“ ein Gedankenexperiment: könnte es nicht viel bequemer sein, sich der fremden Macht zu unterwerfen, alle Verantwortung abzugeben, mitzumachen? Im Roman ist es der politische Islam, dem er sich unterwerfen soll. Aber wie, wenn man nicht in der Lage ist, überhaupt an etwas zu glauben?

Regisseur Stephan Kimmig begnügt sich am Freitag in Berlin am Deutschen Theater mit Seelenzergliederung und Thesentheater zu Religion und Moral. Regisseurin Karin Beier dagegen und Schauspieler Edgar Selge spielen mit dieser Mehrdeutigkeit des Begriffs Unterwerfung. Das erotische Moment des gewaltsamen Niederringens übernimmt in Beiers Inszenierung, die vor einigen Wochen im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere feierte, eine zentrale Rolle. Edgar Selge, eigentlich Ensemblemitglied am Schauspiel Stuttgart, beweist funkelnde Erzählerlust und Stimmenimitierfreude. Der Abend zeigt, was gute Ideologien ausmacht: das starke Wort, das verführt.

Auf der Bühne erlebt man einen Mann, der vorgibt schwach zu sein, müde, leer, unbefriedigt. Und der doch voller Energie ist: Selge berichtet selbstironisch, zynisch wie sehr das Leben ihn langweilt, dann wieder schwärmt er wie ein Sexkobold mit einem Funkeln in den Augen von erotischen Missverständnissen und Abenteuern mit Studentinnen oder Hostessen, vergnüglich kennerhaft mit der Zunge schnalzend.

Angeekelt vom allgemeinen Mittelmaß

Gerade weil François aber mit seinem (Liebes-)Leben schon schier abgeschlossen hat und wie sein Lieblingsautor Joris-Karl Huysmans angeekelt vom allgemeinen Mittelmaß ist, betrachtet er die kommenden Ereignisse (bei den Wahlen in Frankreich siegt die Bruderschaft der Muslime) mit distanzierter Neugierde, ja schier mutwilliger Freude. Und Überraschung: „Bisher dachte ich immer, nach mir die Sintflut. Doch was, wenn die Sintflut vor mir kommt?“ Könnte bald Schluss sein mit seinem laschen Lotterleben.

Selge tigert vor der Bühne auf und ab, wirft vor Wut die Jacke hin, holt sich, als sich bei den Wahlen zu bürgerkriegsähnlichen Szenen ereignen, tütenweise Vorräte. Doch je länger die Belagerung durch die Bruderschaft dauert, desto schwerer fällt es ihm, wieder in seinen Bühnenring hineinzuklettern, der Verstrebungen wie ein Kreuz aufweist und in eine eiserne Wand eingelassen ist. Die Erschlaffung nimmt zu, die Unterwerfung naht. Denn während in Houellebecqs „Unterwerfung“ François sein künftiges Leben als Konvertit im Konjunktiv formuliert, zeigt sich Karin Beier skeptischer: Selge steht am Ende ganz real in muslimischer Tracht da.

Dass François’ private Befindlichkeiten den Abend mitbestimmen, hat einen guten Grund. Das Private ist politisch bei Houellebecq und bei Beier. Es geht nicht nur um die Unterwerfung des Christentums durch den Islam, es geht nicht nur um die Unterwerfung des Geistes durch den Glauben, es geht auch um die Unterwerfung der emanzipierten Frau durch den qua Ideologie als dominant bezeichneten Mann. Der europäische Intellektuelle ist im Roman derart schlapp und unfähig, dass offenbar nur die Möglichkeit zur Vielweiberei im neu etablierten Gesellschaftssystem helfen könnte: je besser das Gehalt, desto mehr Frauen kann sich selbst der mittelmäßigste und unansehnlichste Hochschuldozent leisten.

Das erotische Moment der Überredungskunst fehlt in Berlin

Selge überwältigt das Publikum mit spielerischer, rhetorischer Intensität zum Nachvollzug absurdester Gedankenspiele. Dieser erotische Moment der Überredungskunst geht der Berliner Inszenierung völlig ab. Regisseur Stephan Kimmig schnallt François aufs Krankenbett. Katja Haß’ Bühne ist eine Isolierstation. François ein Stellvertreter des zivilisationsmüden Europa: ein recht platter Einfall, der dem Abend zudem jegliche Spannung raubt. Wenn François (gespielt von Steven Scharf) ein Delirierender ist, könnte ohnehin alles nur Phantasmagorie sein – alles nur erfunden.

Immer wieder tauchen in den zwei quälend langen Stunden Akteure auf, die politische und religiöse Thesen aufsagen. David Heiligers und Stephan Kimmig haben den Roman geglättet, Dialoge, Handlung und politisch überkorrekt Houellebecqs kaltschnäuzige Kommentare gestrichen. Kimmig stilisiert François zu einem verzweifelt Suchenden, doch der Text gibt das nicht her. Wenn davon die Rede ist, dass diejenigen, die sich zu Religionen bekennen, mehr Kinder bekommen als Ungläubige, passen solche kritischen Bemerkungen zu diesen Gläubigen nicht ins Konzept: „Die Frauen sind weniger gebildet, Hedonismus und Individualismus sind weniger ausgeprägt“. Die Inszenierung kreist nur um die Frage, wie der übersättigte Mittelstandsintellektuelle überleben kann, der schon Schwierigkeiten hat, sich zwischen zwei Hosen zu entscheiden und der ans Modell der bürgerlichen Familie nicht glaubt. Das ist ein Thema, für das Kimmig ein Stück von Tschechow hätte wählen können. Nur fehlt da eben der Aspekt des möglichen Rückkehr der Religiosität in Europa durch die vielen neuen, den traditionellen Werten des Islam verpflichteten Einwanderer.

Diagnose unheilbar? Nicht ganz. Kimmig endet nicht mit der Lesung der Suren des Koran, die auf der Idee der „Einheit von Klang und Sinn“ beruht und „die es ermöglicht, die Welt zu erzählen“. Kimmig widerspricht mit einem Bekenntnis zur Uneindeutigkeit der Welt: François erhebt sich, zieht sich an und verlässt zu Versen von Michel Houellebecq das Krankenbett: „Ohne Haltepunkt leben, von Leere umgeben. … Ich durchwandere die Nacht, aufmerksam und hellwach“. Das wäre schon schön gewesen, wenn auch die Inszenierung von diesem Gedanken inspiriert gewesen wäre: Von der Möglichkeit der Unterwerfung des Lebens durch die Kunst.