Wie für Kristian Vaklinov ist in der Gebirgslandschaft der Rhodopen die Schmalspurbahn oft die einzige Möglichkeit, mit einem öffentlichen Verkehrsmittel auf den Markt oder zu einem Arzt zu fahren. Foto: Siri Warrlich

Vor zehn Jahren ist Bulgarien der EU beigetreten. Doch das Bruttosozialprodukt liegt noch immer weit unter dem EU-Durchschnitt. Warum geht es mit dem Land so langsam vorwärts?

Sofia - In weißen, großen Buchstaben prangt der Schriftzug auf der Webseite: „Unlock your inner superhero.“ Im Hintergrund setzt ein Paraglider gerade zu seinem letzten Schritt gen Abgrund an. „Lass deinen inneren Superhelden heraus“: Anita Klasanova hat das Motto ihres Start-ups selbst in die Tat umgesetzt. 2500 Euro Startkapital, ihre Küche zu Hause in der bulgarischen Hauptstadt Sofia und zwei kleine Kinder, die jedes neue Rezept bereitwillig verköstigten: So begann Klasanova 2010, Bio-Energieriegel aus getrockneten Früchten und Nüssen herzustellen. 2012 gründete sie mit ihrem Mann und einem Bekannten „Roobar“. Heute, vier Jahre später, hat das Unternehmen Klasanovas Angaben zufolge 90 Angestellte und produziert im Monat etwa eine Million Riegel. In Bulgarien, sagt die junge Frau mit den schulterlangen, braunen Haaren, sei es nicht schwer, eine Firma zu gründen. „Denn die Lohnkosten sind gering und man braucht wenig Startkapital.“

Die Szene der kleinen, innovativen Unternehmen, die auf schnelles Wachstum setzen, wächst, sagt Klasanova. Doch wer die gesamte Wirtschaft betrachtet, merkt, dass die EU-Mitgliedschaft allein kein Allheilmittel für Probleme ist. Nach wie vor ist das Land das ärmste der Gemeinschaft. Im Schnitt beträgt das Bruttoinlandsprodukt rund 7100 US-Dollar (6800 Euro) pro Kopf – EU-weit ist der Wert fast fünfmal höher. Ähnlich sieht es beim Einkommen aus: Ein Bulgare hatte 2015 im Schnitt nur ein Sechstel des Geldes zum Ausgeben zur Hand, über das ein Deutscher im Schnitt verfügte. Dabei waren die Bulgarien einst diejenigen in Europa, die sich von der EU-Mitgliedschaft am meisten Hoffnungen für den wirtschaftlichen Aufschwung machten.

Entpuppt sich die Hoffnung auf eine stärkere Wirtschaft als Illusion?

Der Beitritt sollte die Wirtschaft Bulgariens ankurbeln, indem der Zugang zum Binnenmarkt ermöglicht würde, Strukturfonds genutzt werden könnten und mit dem Austausch von Unternehmern, Studenten und Politikern neue Ideen ins Land kämen. Entpuppen sich diese Vorstellungen als Illusion?

Theocharis Grigoriadis verneint das. Er ist Ökonom an Freien Universität Berlin und forscht vor allem zu Mittel- und Osteuropa. Seit dem EU-Beitritt sei Bulgariens Wirtschaft durchaus wettbewerbsfähiger geworden, betont der Volkswirt. Transportmöglichkeiten, Bildungseinrichtungen und die Tourismusbranche seien stärker geworden. Doch wie gut Bürokratie, Justiz, Steuerverwaltung funktionieren – darauf habe die EU-Mitgliedschaft nur begrenzten Einfluss. „Man darf nicht vergessen, dass Bulgarien während der Sowjet-Zeit viel stärker als andere Länder in Mittel- und Osteuropa sowjetisiert war“, sagt der Volkswirt. Die Folgen behindern Bulgarien bis heute. „Der langsame Fortschritt bei Korruption auf hoher Ebene und bei Fällen organisierten Verbrechens untergräbt weiterhin das Vertrauen der Öffentlichkeit in die bulgarischen Behörden“, schreibt zum Beispiel die EU-Kommission in ihrem letzten Fortschrittsbericht zu Bulgarien im Januar 2016.

Fördergelder gibt es nur, wenn auch der Verwaltungsapparat funktioniert

Das Problem: Wenn der Verwaltungsapparat nicht funktioniert, kann ein Land oft nicht wie geplant von EU-Geldern profitieren. Drei Fördertöpfe gibt es in der EU für Länder, deren Bruttosozialprodukt weit unter EU-Durchschnitt liegt. Die Gelder sollen dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten sich wirtschaftlich annähern. Ironischerweise fällt es aber gerade den ärmsten Ländern der EU am schwersten, das Geld auch effizient auszugeben.

Wie arm manche Regionen Bulgariens im Vergleich zu vielen anderen EU-Staaten noch immer sind, spürt man zum Beispiel in den Rhodopen, einem der größten Gebirgszüge im Südosten des Landes. „Öffentliche Verkehrsmittel gibt es hier fast keine“, sagt Kristian Vaklinov. Stattdessen sei die Schmalspurbahn der Rhodopen für viele der Region die einzige Möglichkeit, zur Schule, auf den Markt oder zum Arzt zu kommen. In der Gegend leben vor allem Pomaken, eine muslimische Minderheit in Bulgarien. Jeder siebte Bulgare ist muslimischen Glaubens. Dass sie häufig keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, sieht der Volkswirt Theocharis Grigoriadis als ein weiteres wichtiges Hindernis für wirtschaftlichen Aufschwung in Bulgarien. Der Student Vaklinov ist selbst zwar kein Pomake – aber die Vorurteile gegenüber der muslimischen Minderheit nerven ihn. Deshalb will er mit seinem Kampf in den Rhodopen viel mehr bezwecken, als den Erhalt einer Eisenbahn.

Die Pomaken haben bei den Leuten in der Hauptstadt nicht immer einen guten Stand

„In Sofia sagen die Leute: ‚Scheiß Pomaken!’ Unser Ziel war es, Brücken zu bauen, damit mehr Leute hierher kommen, mit der Bahn fahren und die Pomaken selbst kennenlernen“, sagt Vaklinov. Deshalb habe er angefangen, Feste entlang der Bahnstrecke zu organisieren. Bei der letzten Party im September seien über 360 Menschen dabei und alle zwölf Wagen der Bahnvoll gewesen. „Das hat es noch nie gegeben.“

Wer in die Zukunft blickt, sieht für Bulgarien gemischte Signale. Mitte November gewann der prorussische Ex-General Rumen Radev die Stichwahl zum Präsidenten. Das Mitte-Rechts-Regierungslager fiel auseinander, Regierungschef Bojko Borrisov kündigte seinen Rücktritt an. Schon im März könnte es eine neue Parlamentswahl und zähe Koalitionsverhandlungen geben. Die Volksvertreter dürften also vor allem mit sich selbst beschäftigt sein – und weniger mit dringend nötigen Reformen.

Anita Klasanova ist dennoch optimistisch. Ihr selbst habe es enorm geholfen, dass das Land Teil der EU ist: Dank der geringen Handelsbarrieren hätten sie unter anderem in Deutschland Erfolg gehabt, wo Klasanovas Firma „Roobar“ etwa jeden zweiten Energieriegel verkauft. Auf den Messen habe ihr Unternehmen aber gerade bei Westeuropäern oft Staunen ausgelöst: Bio-Riegel aus Nüssen, Früchten und hippen „Superfoods“ wie Chia-Samen? Die Leute hätten aus Bulgarien kein Produkt erwartet, das gut aussehe und eine hohe Qualität habe, sagt Klasnova. Für so manchen EU-Bürger ist das offenbar auch zehn Jahre nach dem Beitritt Bulgariens noch eine Überraschung.