Seit vier Jahren gibt es den Natoinalpark Schwarzwald – die Foto: dpa

Der Nationalpark Nordschwarzwald ist noch kein Besuchermagnet, sondern liegt noch im Dornröschenschlaf. Wer dieser Tage dort wandert ist, fast allein. Das sei ganz in Ordnung, sagen die Ranger. Es gehe nicht um Massentourismus. Wirklich nicht?

Seebach - Gerade raus aus dem Funkloch in Seebach, klingelt das Handy und die Libellen-Führung wird abgesagt, zu wenig Teilnehmer. Sei wohl wegen der Hitze, sagt die Mitarbeiterin des Nationalparks Nordschwarzwald, und dann ergänzt sie „Es hat wohl nicht sollen sein“, als ob der Libellen-Führung ohnehin ein kurzes Leben beschieden gewesen sei. Aber es gibt andere Führungen, die nächtliche Fledermausführung beispielsweise ist bestens besucht mit zwei Dutzend Kindern und Erwachsenen. Viele laute „Da, da, da!“ erklingen als im Licht der Taschenlampen ein Kleiner Abendsegler vorbeiflattert. Und auch die Grinden-Wanderung findet wie geplant statt, startet in der Mittagsglut am Schliffkopf in 1055 Meter Höhe – immerhin sechs Grad kühler als in der Rheinebene. Drei Touristen und zwei Ranger sind da, ein hauptamtlicher – der Forstwirt Lukas Schmidt und ein ehrenamtlicher, der Naturfreund Roger Cornitzius, beide mit Ersthilfepacks im Rucksack. Drei zu zwei – ein ideales Betreuungsverhältnis.

Das Wort Grind stammt aus dem Schwäbischen und bedeutet Kahler Kopf, was im Nordschwarzwald auf die gerodeten und seit dem 14. Jahrhundert als Weideland genutzten Gipfelhöhen hindeutet, die als Kulturlandschaft erhalten bleiben sollen – trotz des Slogans des Parks, die Natur solle sich selbst überlassen werden. Vor vier Jahren ist der 10 000 Hektar große Nationalpark eröffnet worden und Landesumweltminister Franz Untersteller frohlockte kürzlich in Forbach, der „Black-Forest-Nationalpark“ werde eines Tages viele Touristen aus den USA und China anlocken.

Sechs Wanderer auf der Laufmeile zum Wilden See – viel Ruhe in der Hochsaison

Aber mit welcher Attraktion? Wo mache ich hier als ausländischer Tourist mein Selfie? Wer dieser Tage – als alle 16 Bundesländer Ferien hatten – durch den Nationalpark streifte, der fand sogar an den berühmten Allerheiligen-Wasserfällen freie Parkplätze, einen leeren Sesselift am Ruhestein. Und er traf in einer Stunde Wanderung rund um den Seekopf auf der Laufmeile zum Wilden See exakt sechs Wanderer.

„Oft fragen die Leute, ob wir hier große Tiere haben“, sagt Ranger Schmidt bei der Grinden-Wanderung. Zwar gibt es einen Luchspfad, wo man erfährt, wie weit die Raubkatze springt, aber weder Luchs noch Wolf sind im Nationalpark gesichtet worden. Die von ihm ausgehende Faszination, will entdeckt werden – auch die einer Grinde. Schmidt hebt sein Fernglas: „Da! Schauen Sie!“ Als dunkle Gestalt wahrzunehmen ist ein Heckrind mit seinen breiten Hörnern, eine Nachzüchtung des Auerochsens. Und drüben stehen ein paar Hinterwäldler-Rinder auf der Wiese im Schatten von Birken – kleinwüchsige und robuste Tiere, mit viel Auslauf, wohl die glücklichsten Kühe Baden-Württembergs. Das Vieh, das im Winter in den Stall geholt wird, bewahrt die Wiesen vor der Verbuschung und garantiert seltenen Bodenbrütern wie dem Wiesen- und dem Baumpieper das Überleben.

Das scheue Auerhuhn ist das berühmteste Tier des Nationalparks

Ein Mauersegler in der Luft, eine vom Blaubeerenverzehr gefärbte Fuchslosung und die beiden Kreuzottern, die Ranger einmal aus dem Garten des Hotels Schliffkopf entfernen mussten – die Glanzlichter der Fauna, auf die bei der Wanderung hingewiesen wird, sind übersichtlich. Das scheue Auerhuhn ist das berühmteste Tier des Nationalparks, 50 Exemplare leben hier, und an einer Waldecke mit abgestorbenen Bäumen erklärt Schmidt, dass das Auerhuhn auch gern auf Baumstümpfen niste – der Marder kommt da nicht hoch.

Dieses sogenannte Totholz aber ist das eigentliche Wunder des Nationalparks: Anders als in einem Wirtschaftswald darf hier das Leben eines Baumes seinen Lauf nehmen. Er darf sterben, trocknen, umfallen, zerfallen, zermodern: Und das Totholz biete rund 1400 Käferarten einen Lebensraum, sagt Ranger Schmidt zur Eröffnung eines Vortrags über den Borkenkäfer, der hier nicht bekämpft werden darf: „Der Borkenkäfer befällt nur junge Fichten im Alter unter 80 Jahren. Ich nenne ihn einen Wegbereiter neuen Lebens.“ Totholz sei für den Wald wichtig. Wo der Borkenkäfer sein Unwesen treibt, schafft er Lebensräume für Pilze, Flechten, Spechte und den putzigen Sperlingskauz, die kleinste Eulenart Europas.

Mal abgesehen davon ist auch das Leben des Borkenkäfers interessant: Ranger Schmidt zeigt eine durchfurchte Baumrinde, in der sich ein Buchdrucker häuslich niedergelassen hat: „Der Käfer brütet in der Rinde, er schafft Gänge für die Mütter und sogar Paarungsräume. Wir Forstwirte nennen das die Rammelkammer.“

Kein Touristenort verlässt sich alleine auf den Nationalpark

Der steinige Weg über die Grinden führt weiter und plötzlich schlägt Ranger Cornitzius Alarm: „Halt, hier ist eine superschöne Stelle, ein spannendes Mosaik von Pfeifengras, Heidekraut, Latschenkiefern sowie Blaubeeren und Rauschbeeren!“ So etwas könne nur die Natur schaffen. Die Rauschbeere ist etwas heller als die Blaubeere, weil sie oft von einem Pilz befallen wird, fallen Menschen nach ihrem Verzehr oft in einen Rauschzustand – auch ein interessanter Natureinblick. Wegen des immense Vorkommen von Heidelbeeren müssen die zehn Ranger des Parks übrigens gelegentlich gegen gewerbsmäßige Sammlergruppen aus Frankreich einschreiten, es drohen denen sogar Bußgelder.

Fragt man in den Umlandgemeinden, wie der Nationalpark so ankomme, kommt respektvolle Zustimmung, wenngleich sich kein Touristenort auf ihn alleine verlässt. Seebachs Bürgermeister Reinhard Schmälzle empfängt im kühlen Gemeindesaal, da es in seinem Büro im Dachgeschoss zu heiß sei, und er zählt erst mal alle Attraktionen des Ortes auf – Hornisgrinde, Mummelsee, Schwarzwaldmühlen, Bergwerksbesuch, Schnapsbrennereien – bevor er auf den Nationalpark kommt. Ja, die Zahl von Fachbesuchern und Seminaren habe zugenommen, es gebe mehr Tagesgäste. „In den sozialen Netzwerken ist der Nationalpark in aller Munde. Da sagen sich die Leute, das muss was Gutes sein.“ Schmälzle , seit 1994 Bürgermeister, sagt aber auch, was die Einheimischen denken: Der Nationalpark sei jetzt vier Jahre alt, aber „der Wald ist ja eigentlich so wie immer“.

Mitte 2020 soll ein Besucherzentrum mit Skywalk, Kino und Lichteffekten eröffnen

Ähnlich auch die Einschätzung von Patrick Schreib, dem Tourismusdirektor von Baiersbronn, auf dessen Gemarkung 60 Prozent des Nationalparks liegen. Wer ihn besucht, geht wieder mit einer drei Kilo schweren Tüte voller Prospekte: Juniorprogramm mit 500 Veranstaltungen, kulinarischer Wanderhimmel, Mountainbiking mit Apps, Köhlerwochen, Tonbachtal-Beleuchtung. Der Ort mit der höchsten Dichte an Sterne-Restaurants setzt seit 15 Jahren darauf, „Genuß und Natur“ zu verbinden. Er hat das Wanderwegenetz von 1000 auf 500 Kilometer reduziert, auf die Premiumwanderwege. „Wir setzen auf ein intensives Produkterlebnis. Jetzt mit dem Nationalpark glaubt man uns, dass wir wirklich eine herausragende Natur haben“, sagt Patrick Schreib.

Laut Schätzungen könnte der Nationalpark 450 000 bis 650 000 Gäste anlocken, man sei mit einer Untersuchung dabei, das zu verifizieren sagt der Nationalparkdirektor Thomas Waldenspuhl. Aber er weist auch daraufhin, das der Park eigentlich kein Touristenziel sei, sondern ein Naturschutzprojekt. Man habe drei bis vier Führungen am Tage, die „Besucher sollen Stille und Achtsamkeit erfahren, die Natur aus den Augen eines Auerhuhns oder einer Pflanze betrachten“. Qualität, so der Forstwirt Waldenspuhl, sei ihm wichtiger als Masse. Abseits der Hektik der Städte könne man im Nationalpark den Respekt vor der Natur lernen und sie annehmen „wie sie ist“. Dass Mitte 2020 ein neues Besucherzentrum mit Skywalk, Kino und Lichteffekten am Ruhestein eröffnet wird, ficht Waldenspuhl nicht an. Wenn da ein chinesischer Tourist, der Europa in drei Tage mache, den Nationalpark dann in drei Stunden mache, sei das auch ganz okay.

Abstieg zum Wilden See, dem Herzstück des Nationalparks. Der Karstsee schimmert tiefblau durchs Tannengrün, umgefallene Bäume. Früher Nachmittag, acht Erwachsene, zwei Kinder und ein Hund sind in der kleinen Strandbucht anzutreffen. Der Hund kläfft, ein Kind brüllt „Echo“ – und das kommt zurück. Das Baden im See ist verboten. Nach einer halben Stunde sind alle weg – der Wanderer ist allein. Mit sich und der Natur und ein paar Enten, die an den Zehen zu knabbern versuchen.