Das Drunter früherer Jahre – Transparent war schon immer Mode Foto: dpa

Ob aus Wolle oder Leinen: Um den Körper zu stählen, sollte Leibwäsche um 1900 kratzen. Das und mehr lehrt die Ausstellung „Auf nackter Haut – Leib. Wäsche. Träume“ im Haus der Geschichte Baden-Württemberg und erinnert an die ehemals florierende Maschenindustrie im Land.

Stuttgart - Genug des Blutvergießens! Nach seinen Schauen zum RAF-Terror und zum Ersten Weltkrieg geht das Haus der Geschichte Baden-Württemberg nun dem deutschen Südwesten an die Wäsche. Unter der Federführung von Professor Paula Lutum-Lenger nimmt die am Freitag eröffnete Sonderausstellung „Auf nackter Haut – Leib. Wäsche. Träume“ in den Blick, was lange Zeit sittsam verborgen wurde: Unterhosen, Büstenhalter, Pyjamas und andere Wäschestücke, aber auch Sporttrikots, Badebekleidung, Hausanzüge und Hemden. Die „Unaussprechlichen“, wie schamhaft die ersten, unten offenen Beinkleider für Frauen umschrieben wurden, dürfen da nicht fehlen. Auch sie macht das Museum bis Ende Januar 2016 zum Thema.

Der als Schaufensterbummel auf laufsteglangem Parcours inszenierte Exkurs beginnt im 19. Jahrhundert und beleuchtet in fünf Kapiteln die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Landes bis zur Gegenwart. Heute fast vergessen: Die industrielle Dominanz des Maschinen- und Fahrzeugbaus begann erst Mitte des 20. Jahrhunderts. „Mehr als 100 Jahre lang prägte die Textil- und Bekleidungsindustrie in Baden, Württemberg und Hohenzollern die wirtschaftliche Entwicklung“, sagt Museumsleiter Thomas Schnabel. „Heute spielt die Textil- und Bekleidungsindustrie bei Umsatz und Beschäftigung nur noch eine vergleichsweise geringe Rolle.“ Die Verlagerung der Textilindustrie in Billiglohnländer ist dafür ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Grund.

Maschinenbau hat seinen Ursprung in der Textilindustrie

Ohne die früher zwischen Bodensee und Stuttgart verbreitete Textilindustrie wäre die vielgepriesene Maschinenbau-Branche des Landes aber wohl kaum das, was sie heute ist. Sie hat ihre Wurzeln in den kompliziert gebauten Geräten der Maschenindustrie, etwa in dem in Frankreich erfundenen und 1856 in Württemberg eingeführten Rundwirkstuhl.

Diese von Charles Terrot in Cannstatt, Fouquet & Frauz in Rottenburg am Neckar und Mayer & Cie. in Tailfingen produzierten High-Tech-Maschinen ihrer Zeit fertigten schnell und kostengünstig nahtlose Textilschläuche in Serie. Der Degerlocher Strumpfwirker Wilhelm Benger, dessen Name bis heute im Stuttgarter Wäschegeschäft Maute Benger fortbesteht, setzte früh auf diese Technik. Und auch der seit 1875 in Radolfzell am Bodensee ansässige Schweizer Fabrikant Jacques Schiesser stellte damit seine Trikotwaren her. Konsequent, dass die Kuratoren den Beginn der Ausstellung mit einer solchen Rundwirkmaschine markieren. Dieser Meilenstein der Technik steht dem Inventar eines Aussteuerschrankes aus dem 19. Jahrhundert gegenüber, zu dem – ganz traditionell – ein Korsett gehört.

Wilhelm Benger Söhne und Jacques Schiesser: zwei Namen, zwei Marken, zwei Meinungen. Um 1900 konnte die Philosophie für die Wahl des Maschenwaren-Materials kaum gegensätzlicher sein als bei diesen beiden. Unter Berufung auf den Arzt Gustav Jäger, per Exklusivvertrag an Benger gebunden, setzte der Stuttgarter Fabrikant auf wollene Gesundheitswäsche. Die gab naturgemäß mächtig warm und kratzte ordentlich. Als durchblutungsfördernd und abhärtend gepriesen, war das ausdrücklich erwünscht. Auch der Schweizer Kollege am Bodensee war auf diesen Kratzeffekt aus. Doch anders als Benger vertraute Schiesser dabei auf kühlendes Leinen und luftdurchlässige Baumwollmaschen.

Erst in den 1920er Jahren begann sich unter der Garderobe eine textile Welt voller optischer Reize und haptischer Raffinesse herauszubilden. Zumindest für die Frau, der Mann musste darauf vier weitere Jahrzehnte warten. Aus der Perspektive des Gegenübers ist’s freilich umgekehrt. Die erotisierenden Impulse mit einer schlanken Silhouette als weibliches Schönheitsideal kamen vom Film und aus der Werbung. Dieser Einfluss des bewegten Bildes und damit auch des Zeitgeistes integriert die Ausstellung Kapitel für Kapitel durch Monitore mit Filmausschnitten.

„Auf nackter Haut“ bleibt ganz der schwäbischen Wäsche verbunden

Erstaunlich ist, dass sich unter den insgesamt 418 Exponaten, dessen jüngstes Modell aus diesem Jahr stammt, zwar einige kecke Exemplare entdecken lassen. Doch kaum eine Garnitur erreicht die Sinnlichkeit von Dessous oder spielt gar mit den sexuellen Signalen echter Reizwäsche. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sich die Auslagen in den musealen Schaufenstern weit überwiegend aus den Firmenarchiven von Wilhelm Benger Söhne und der Schiesser AG speisen. Mit ihrem Bezug zum süddeutschen Raum fallen die für die Modeentwicklung entscheidenden Anstöße aus der französischen Lingerie ebenso unter den Tisch wie die Einflüsse aus der US-amerikanischen Burlesque-Szene. Insofern bleibt „Auf nackter Haut“ ganz der schwäbischen Wäsche verbunden, die schon früh ein Exportschlager war. Als umfassende Kulturgeschichte der Dessous-Mode kann die Präsentation nicht gelten.

„Die Idee zu der Ausstellung wurde geboren, als die Schiesser AG 2009 Insolvenz anmeldete“, erklärt Paula Lutum-Lenger. Die Gründe dieser Krise schreibt sie unter anderem Fehlinvestitionen und der Vernachlässigung der Marke zu. „Am vermeintlich unmodernen Feinripp lag es nicht.“ Damals suchte der Insolvenzverwalter nach einem Weg, die Musterkollektion des mittlerweile sanierten Unternehmens als Ganzes zu erhalten. Nachdem Radolfzell kein Interesse an diesem Erbe zeigte, wie die Ausstellungsleiterin durchblicken lässt, war das Haus der Geschichte zur Stelle: Als Leihgabe erhielt das Museum weit über 5000 Wäschestücke aus 135 Jahren. „Das darf man sich nun nicht als geordnetes Archiv vorstellen“, sagt Lutum-Lenger. Vielmehr lagerten die Höschen, Hemdchen, BHs, Schlafanzüge und Unterkleider in Kisten und Kästen auf einem Dachboden: ohne jede Datierung. „Das Sichten, Ordnen und Erfassen war ein Puzzlespiel“, erinnert sich die Volkskundlerin. „Viele Einzelstücke ließen sich erst mit Hilfe von Werbeplakaten richtig datieren.“

Die Kuratoren nutzen die zeitliche Einordnung der Wäschestücke, um den gesellschaftspolitischen Wandel zu zeigen, der sich direkt auf der Haut abspielte. An Gestaltung und Materialien der Garnituren lässt sich mehr ablesen, als man zunächst denken könnte: das Körpergefühl, die Rolle der Geschlechter, die soziale Zugehörigkeit, Krisenzeiten und Erfindungen. So gibt der Kurator Immo Wagner-Douglas zu bedenken, dass die Frau der Wirtschaftswunderjahre mit dem Aufkommen der zwar leichten und transparenten, aber schweißtreibenden Wäsche aus den Kunststoffen Nylon und Perlon an Komfort und Bewegungsfreiheit einbüßte und zurück ins Haus gedrängt wurde. Und mit Blick auf den Mann sei erstaunlich, dass dieser sogar in Unterwäsche uniformiert durchs Leben geht. „Bei Schiesser kann man das Prinzip einer gleichmachenden Wäsche gut erkennen.“ Bis heute besteht sie – auch, aber nicht nur – aus weißem Feinripp. Das war nicht immer so. Anfang der 1930er Jahre kleidete Schiesser die Herren der Schöpfung in rosarote Schlupfhosen.