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Damit die Ortskerne kleiner Gemeinden nicht aussterben, müssen die Einwohner umdenken.

Stuttgart - Kurz im Lebensmittelmarkt um die Ecke eine Butter kaufen: Mancher muss dafür ins Auto und fünf Kilometer fahren. Laut einer Umfrage des Einzelhandelsverbandes fühlt sich landesweit knapp ein Fünftel der Gemeinden unterversorgt.

Zehn Uhr morgens in Hardt, dem kleinsten Stadtteil von Nürtingen. Knapp 900 Einwohner zählt der Ort. Kaum einer ist auf den Straßen unterwegs. In Hardt gibt es weder Metzger noch Bäcker, geschweige denn einen Lebensmittelladen. Nahversorgung Fehlanzeige. Damit steht Hardt in Baden-Württemberg nicht alleine da. Der Einzelhandelsverband hat 184 Kommunen befragt: 18 Prozent halten sich für unterversorgt. 23 Prozent empfinden das Angebot vor Ort gerade noch als ausreichend.

Seit 20 Jahren leben die Hardter ohne Einkaufsmöglichkeiten. Davor gab es immerhin eine Bäckerei, die auch Lebensmittel anbot. "Wenn am Vormittag zwei Kunden kamen, war das viel", erinnert sich Anwohner Kurt Alber. Und die wollten meist nur die Kleinigkeiten, die sie beim Großeinkauf vergessen hatten, besorgen. "Hardt ist ein Schlaf-Ort", sagt er. Geht man von den Berufstätigen aus, ist der Stadtteil tagsüber sozusagen leer. Einkäufe werden auf dem Heimweg beim Discounter in zwei Kilometer Entfernung am Ortsrand von Wolfschlugen erledigt.

Ganz ähnlich halten es auch die Einwohner von Gruibingen direkt an der A 8 am Aichelberg. Auf über 2000 Menschen kommen zwei Metzger, ein Bäcker, ein Getränke- und ein Drogeriemarkt. Für alles andere müssen die Einwohner fünf Kilometer bis nach Gosbach fahren. Dort locken gleich mehrere Geschäfte am Ortseingang die Kunden an. Und das erfolgreich. Vor fünf Jahren machte der letzte Supermarkt in Gruibingen dicht. "Er konnte mit den Preisen der großen Ketten nicht mithalten, und so blieben die Kunden aus", sagt Bürgermeister Roland Schweikert.

Einen neuen Vorstoß hat in beiden Gemeinden seither kein Investor gewagt. "Nicht rentabel", heißt es aus den Rathäusern. Kleine Läden müssen gegen die Konkurrenz und das Kaufverhalten der Verbraucher ankämpfen. Oft vergebens. "Die Menschen wollen in großen Märkten einkaufen, und das günstig und bequem", stellt Roland Schweikert fest. So verliert mancher Innenstadtladen den Wettbewerb oft nicht erst an der Kasse, sondern schon auf dem Parkplatz. "Wer nicht genügend Stellplätze hat, schaut in die Röhre", sagt der Schultes.

Soziale Kontakte schlafen ein

Doch der kleine Supermarkt im Zentrum ist ein Anziehungspunkt für den Ortskern. Gibt er auf, bricht auch den übrigen Geschäften in der Ortsmitte die Laufkundschaft weg. Zumindest in Hardt geht ohne Auto oder Bus nichts mehr. Einwohnerin Annette Heilemann hat sich mit der Situation arrangiert: "Ich wusste, worauf ich mich einlasse und erledige alles mit dem Auto." Madeleine Schöck hat kein Auto und deshalb trotz Busanbindung schwer zu schleppen. Kurt Alber nervt es, sonntags wegen Brötchen in den nächsten Ort fahren zu müssen. "Bisher geht das alles noch. Ob ich hier alt werden will, weiß ich noch nicht", sagt der 59-Jährige. Senioren sind in Hardt auf Nachbarschaftshilfe angewiesen. So geht Unabhängigkeit im Alter verloren.

Mit dem Aus für den kleinen Laden, schlafen auch soziale Kontakte ein. In Hardt trifft man sich selten zufällig auf der Straße. Das gesellschaftliche Leben ist so gut geplant wie die Einkäufe beim Großanbieter. "Die Einwohner treffen sich beim Kindergarten, im Sportverein oder beim Gottesdienst", sagt Margret Alber.

Steht und fällt alles mit dem Lebensmittelladen? "Das kann in der Tat sein", heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Im Landesentwicklungsplan 2002 ist deshalb zum Schutz der Ortskerne festgelegt, wo sich Großanbieter niederlassen dürfen und wo nicht. In kleinen Gemeinden beispielsweise nur, wenn sie die Grundversorgung sichern und Geschäften in umliegenden Ortschaften keine Konkurrenz machen. Die Region und die Gemeinden selbst müssen den Einzelhandel am Ortsrand so steuern, dass die Läden im Zentrum nicht pleitegehen.

Dass über vierzig Prozent der befragten Kommunen die Nahversorgung gerade ausreichend oder schlechter bewerten, ist kein Grund für Schwarzmalerei, wenn es nach Wirtschaftsminister Ernst Pfister (FDP) geht: "36 Prozent fühlen sich gut versorgt. Es gibt keine Patentlösungen, aber kleine Nahversorger haben unter bestimmten Voraussetzungen und mit engagierten Akteuren echte Chancen, sich zu behaupten."

Welche das sind, haben Wirtschaftsministerium und Einzelhandelsverband in einem Leitfaden zusammengefasst. Integrationsmärkte zum Beispiel: Der Awo-Kreisverband Heidenheim führt als sozialer Träger den Laden in Bolheim und beschäftigt Behinderte, Langzeitarbeitslose und benachteiligte Jugendliche.

Kunde und Eigentümer zugleich sind die Einwohner von Bechtoldsweiler im Zollernalbkreis bei ihrem Genossenschaftsladen. Das stärkt die Bindung, so der Gedanke. Auch bei einem Dorfladen geht es nicht ohne bürgerlichen Einsatz. In Sechselberg im Rems-Murr-Kreis wurde extra für den Dorfladen ein Bürgerverein gegründet. Wer sich so engagiert, den will das Land auch unterstützen: Ein Berater schaut den Gründern über die Schulter. Als Starthilfe gibt es ein zinsgünstiges Darlehen bei der L-Bank.

14 unterschiedliche Varianten und insgesamt 40 Kommunen stellen ihre Lösung im Leitfaden vor. Viele Läden laufen schon seit mehr als fünf Jahren dank des neuen Konzeptes. Genug Zeit für andere Gemeinden, um nachzuziehen. Dennoch gibt ein Drittel der befragten Kommunen an, dass sich die Nahversorgung in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert hat. "Land und Kommune können nicht garantieren, dass es in jedem Ort oder Stadtteil einen Lebensmittelladen gibt", heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Der kleine Supermarkt sei nur rentabel, wenn die Verbraucher umdenken. Ernst Pfister: "Sie sind es, die mit ihren Füßen und ihrem Geldbeutel darüber abstimmen, ob der Laden in ihrer Nachbarschaft wirtschaftlich überlebt."