Vor allem das Handwerk setzt auf Geflüchtete. Lehrlinge sind mittlerweile bis zu fünf Jahren vor der Abschiebung geschützt – bei Festangestellten gibt es weniger Sicherheit. Foto: dpa

Erst zwei, jetzt 80: Immer mehr Unternehmen aus dem Südwesten machen sich dafür stark, dass Flüchtlinge nicht abgeschoben werden, sondern als Mitarbeiter bleiben können. Jetzt ist Innenminister Thomas Strobl am Zug.

Stuttgart - Um zu verdeutlichen, wie angespannt der Arbeitsmarkt in bestimmten Bereichen ist, zieht Antje von Dewitz einen Vergleich: Wenn ihr Unternehmen, der Outdoor-Ausstatter Vaude aus Tettnang, eine Stelle in der Verwaltung ausschreibe, gingen bis zu 70 Bewerbungen ein. „Wenn wir dagegen jemanden für die Näherei suchen, bekommen wir vielleicht eine oder zwei unqualifizierte Bewerbungen“, so die Familienunternehmerin. Um dieser Misere zu entgehen, aber auch weil sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden wollte, habe von Dewitz 2015 nicht lange gezögert, als die Bundeskanzlerin mit ihrem mittlerweile berühmt gewordenen Satz auch die Unternehmen in die Pflicht nahm. Vaude stellte in der Folge zwölf Geflüchtete fest an.

Von den jungen Männern aus Syrien, Afghanistan, Gambia, Kamerun, Nigeria und dem Irak hätten mittlerweile fünf einen festen Aufenthaltsstatus, bei einem laufe das Asylverfahren noch. Die Asylanträge der übrigen sechs seien abgelehnt worden. Obwohl die Betroffenen mit Unterstützung des Unternehmens gegen diese Ablehnungen vorgehen, droht ihnen nun die Abschiebung in ihre jeweiligen Heimatländer. Antje von Dewitz macht die Rechnung auf: Man habe seit 2015 rund 63 000 Euro in die Integration der Männer investiert. Sollte sie alle sieben bedrohten Mitarbeiter auf einmal verlieren, würde das einen Produktionsausfall in Höhe von 247 000 Euro bedeuten. „Wir fühlen uns wie viele andere Unternehmen auch von der Politik im Stich gelassen“, fasst sie die Stimmung in der Wirtschaft zusammen.

80 Unternehmen haben sich der Initiative angeschlossen

Ein Beleg dafür ist auch die große Unterstützung für die Initiative, die die Vaude-Chefin Anfang des Jahres zusammen mit Gottfried Härle von der gleichnamigen Brauerei in Leutkirch ins Leben gerufen hat. Mittlerweile haben sich 80 Unternehmer und Handwerker aus dem Land angeschlossen. Mehr als die Hälfte davon traf sich am Donnerstagabend mit dem baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) in Stuttgart. Am Freitagvormittag stellten die Gesprächspartner ihre Positionen auch öffentlich vor.

Die Unternehmen fordern neben einer gesicherten Bleibeperspektive für gut integrierte Festangestellte auch realistischere Vorgaben bei der sogenannten Mitwirkungspflicht zur Identitätsklärung. Gottfried Härle erklärte, wie schwierig es in vielen Fällen ist, diese Vorgaben umzusetzen: So habe der Konsul des Landes Gambia schriftlich mitgeteilt, dass man einen gambischen Pass nur in dem westafrikanischen Land selbst ausstellen lassen könne. Die besondere Tragik in solchen Fällen sei, dass Betroffene ohne gültige Dokumente zwar nicht abgeschoben werden könnten, ihnen aber unter Umständen die Arbeitserlaubnis entzogen würde. „Dann stehen die Menschen plötzlich auf der Straße und sind zum Nichtstun verdammt. Und wir als Unternehmen verlieren die Arbeitskräfte, die wir dringend brauchen“, sagte Härle.

Alle Seiten wollen ein Einwanderungsgesetz

Einigkeit herrschte bei dem Gespräch der Unternehmer mit dem Minister über die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes zur Arbeitsmigration. Diese solle nicht nur Fachkräften, sondern auch einfachen Arbeitskräften für Helfertätigkeiten die Zuwanderung ermöglichen.

Strobl hob die bereits erzielten Verbesserungen wie die sogenannte 3+2-Regelung für Auszubildende hervor, die auch jungen Menschen ohne Bleibeperspektive den Aufenthalt für fünf Jahre garantiere. Die Regelung sei in Baden-Württemberg mittlerweile auf Ausbildungen erweitert worden, bei denen das erste Jahr komplett in der Berufsfachschule absolviert wird – ein Entgegenkommen gegenüber vielen Handwerksbetrieben. Strobl kündigte an, dass man beabsichtige, die Regelung künftig auch auf einjährige Ausbildungen anzuwenden, etwa die Ausbildung zum Altenpflegerhelfer oder zum Beikoch in der Gastronomie. Einen Zeitpunkt nannte er nicht.

Interessen der Wirtschaft und des Rechtsstaates abwägen

Ein mögliches Entgegenkommen deutete Strobl auch für festangestellte Beschäftigte an. „Wir werden Spielräume, wo es sie legalerweise gibt, ausnützen.“ Es müsse ein Weg gefunden werden, der sowohl die Interessen der Wirtschaft als auch die Regeln des Rechtsstaats im Blick habe. Gemeinsam mit den Unternehmen wolle er darüber reden, wie diese „eine stärkere Verantwortung“ für betroffene Beschäftigte übernehmen könnten. Dabei seien beispielsweise „Patenschaften“ oder „Bürgschaften“ denkbar.

Ob dies noch vor der Schaffung eines bundesweiten Einwanderungsgesetzes ein möglicher Sonderweg für Baden-Württemberg sein könnte, wollte Strobl am Freitag nicht sagen. Er will sich im Bundesrat und bei Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) für die Interessen der Wirtschaft einsetzen: Alle, die in Baden-Württemberg arbeiten wollen, sollten einen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen – egal ob Facharbeiter oder ungelernte Kräfte.

80 Unternehmen und Handwerker beteiligen sich

Initiative Der von Antje von Dewitz und Gottfried Härle angestoßenen Initiative haben sich 80 Unternehmen aus dem Land angeschlossen, von der kleinen Landmetzgerei bis zum Schraubenkonzern Würth. Die Beteiligten stehen für einen Jahresumsatz von mehr als 44 Milliarden Euro, beschäftigen mehr als 545 000 Mitarbeiter sowie gut 2000 Flüchtlinge. Mancher Handwerker beschäftigt einen Geflüchteten, der Textil-unternehmer Wolfgang Krupp (Trigema) gleich 31 und Markus Winter, geschäftsführender Gesellschafter des Industriedienstleisters IDS, sogar 82.

Betroffene
In Baden-Württemberg gibt es nach Angaben des Innenministeriums rund 55 000 Personen im erwerbsfähigen Alter mit Schutzstatus. Einen unsicheren Status, weil ihre Asylverfahren noch laufen, haben etwa 39 000 erwerbsfähige Männer und Frauen. Die Unternehmer-Initiative bezieht sich vor allem auf die rund 16 000 Personen ohne Bleibeperspektive, deren Asylanträge abgelehnt wurden.