Rund 50 Patienten pro Jahr erhalten in Tübingen die TMS-Therapie. Foto: Uniklinik Tübinge

Die Uniklinik Tübingen erforscht Therapien bei Schlaganfall-Patienten: Mit Magnetwellen werden geschädigte Hirnareale stimuliert. Die Klinik sucht Patienten für eine Studie.

Tief im Inneren hatte Thomas Schneider (Name von der Redaktion geändert) eine Ahnung, dass ihn bald der Schlag treffen würde. „Ich hatte schon Tage im Voraus Probleme mit meinem linken Arm“, sagt der 74-Jährige aus Hildrizhausen. „Er fühlte sich taub an, manchmal konnte ich ihn gar nicht bewegen.“ Obwohl die Lähmungserscheinungen nur von kurzer Dauer waren, begab sich Schneider ins Krankenhaus. „Zur Sicherheit“, wie er sagte. Kurz darauf erlitt der Rentner einen Schlaganfall. Als er erwachte, konnte er nicht sprechen und die linke Körperhälfte nicht bewegen.

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Mehr als jeder vierte der 27 000 Schlaganfallpatienten stirbt

Es war Schneiders Glück im Unglück, dass er sich schon in medizinischer Behandlung befand. Beim Schlaganfall kommt es auf jede Minute an: Mehr als jeder vierte der 27 000 Schlaganfallpatienten pro Jahr in Deutschland stirbt. Doch auch wenn die medizinische Versorgung rechtzeitig geschieht, können Defizite bleiben – etwa kognitive und körperliche Ausfälle.

Eine vollständige Rückbildung der Schäden gelingt nicht immer

Zwar belegen mehrere Studien, dass Rehabilitationsmaßnahmen die Sterblichkeit, das Ausmaß an körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen und den Pflegebedarf nach einem Schlaganfall vermindern. Doch eine vollständige Rückbildung gelingt nicht immer: Thomas Schneider weist auf seinen linken Arm. Aus der schlaffen Muskellähmung hat sich eine überhöhte Muskelspannung gebildet. Der Arm und die Hand sind verkrampft und schmerzen. „Alltägliche Dinge wie Anziehen, Waschen und Kochen sind eine Herausforderung“, sagt er. Auch seinem Gang fehlt es an Sicherheit, weshalb Schneider am Stock gehen muss. Daran haben auch Folgebehandlungen mit Physio- und Ergotherapie nichts ändern können.

Die TMS-Therapie soll die Beweglichkeit fördern

Inzwischen lässt sich Thomas Schneider an der Uniklinik Tübingen behandeln: Am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen, das von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung gefördert wird, widmet sich die Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen der Forschung und Therapie von Schlaganfällen. So gibt es seit 2018 im Verbund mit dem Tübinger Uniklinikum eine Ambulanz für Transkranielle Magnetstimulation (TMS), an der Patienten durch gezielte Stimulation des Gehirns behandelt werden. Dies soll das Zusammenspiel verschiedener Hirnareale fördern, wie die Ärztliche Leiterin der TMS-Ambulanz, Anne Lieb, erklärt.

Die Reizimpulse bereiten das Gehirn auf die Physiotherapie vor

Normalerweise hemmen sich die beiden Hirnhälften gegenseitig. „Durch den Schlaganfall ist die eine Hirnhälfte gestört, weshalb die andere Hemisphäre überaktiv ist und dabei die schon geschwächte umso mehr hemmt“, erklärt die Neurologin Lieb. Es komme zu einem Ungleichgewicht, das die Rehabilitation erschwere. „Mithilfe der Stimulation im Bereich der Hirnrinde, der für die Bewegung der Muskeln zuständig ist, versuchen wir, die geschwächte Seite zu enthemmen.“ Die Reizimpulse sollen das Gehirn auf die anschließende Physiotherapie vorbereiten – und so nachhaltig wirken.

Thomas Schneider wurde in 18 Sitzungen für je eine halbe Stunde mit der Magnetstimulation behandelt, direkt im Anschluss ging es zur Physiotherapie. „Danach ging es leichter, die Hand zu öffnen.“ Diesen Effekt beobachtet Lieb bei vielen ihrer Probanden: „Vor allem Patienten mit Lähmungen im Hand-Arm-Bereich und mit Sprachstörungen profitieren durch die TMS-Behandlung, zu ihnen gibt es die meisten Studien.“In den kommenden Jahren soll auch eine Therapie zu Beinlähmungen angeboten werden.

TMS-Therapien gibt es auch bei der Behandlung von Depressionen

Was eine TMS-Therapie bewirken kann, wird schon länger untersucht – nicht nur bei Schlaganfällen, sondern auch bei Depressionen. In Tübingen versuchen die Ärzte allerdings herauszufinden, wann und wie die Stimulation des Hirns durch die gesetzten Pulse genau erfolgen sollte, um für die Betroffenen das beste Ergebnis zu erreichen. Es geht also um eine Personalisierung der Therapie.

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Rund 50 Patienten pro Jahr bekommen in Tübingen die Magnetspule an den Kopf gehalten. „Die Therapie ist absolut schmerzfrei“, bestätigt Michael Berger (Name von der Redaktion geändert). Man spüre nur ein dumpfes Klopfen. Der 27-Jährige aus dem Remstal gehört zu den jüngsten Patienten in der TMS-Ambulanz. „Ich will meinen Arm wieder besser bewegen und sicherer auf meinen Beinen stehen“, sagt er. Eine angeborene Gefäßveränderung im Kopf hatte dazu geführt, dass eine Arterie geplatzt ist. Ohne zuvor körperliche Warnsignale wahrgenommen zu haben, kippte Berger eines Tages um. Wochenlang war sein Zustand mehr als kritisch. Siebenmal musste sein Gehirn operiert werden. Das hat Spuren hinterlassen.

Der 27-Jährige musste praktisch von vorne anfangen

„Erst konnte ich gar nichts: nicht sprechen, nicht laufen“, sagt Berger. Dank der Reha könne er nun beides wieder. Allerdings leidet er wie der 73-jährige Schneider unter der Spastik im Arm. Und auch er braucht aufgrund der Gleichgewichtsstörung eine Gehhilfe. „Ich habe im Leben von vorne anfangen müssen.“ Den Beruf als Koch hat er aufgegeben und ist von Hamburg nach Fellbach gezogen, seiner alten Heimat. Dort hat er von seinem Neurologen von der TMS-Therapie gehört – und wollte sie sofort nutzen.

Etwas mehr als ein Dutzend Sitzungen hat er schon hinter sich gebracht. Weil er mit seiner Krankheitsgeschichte nicht dem Studiendesign entsprach, hat er die Behandlungskosten in Höhe von 3000 Euro selbst gezahlt. Nun hofft er, über neue Studienansätze erneut an einer Therapie teilnehmen zu können. „Meine Motorik hat sich spürbar verbessert, das will ich weiter nutzen.“

Hilfe für Schlaganfallpatienten

Blockade
Meist blockiert ein Gerinnsel ein Blutgefäß im Gehirn. Oder ein Gefäß platzt dort, und Blut tritt ins umliegende Nervengewebe aus. In beiden Fällen wird das Gehirn nicht mehr richtig mit Sauerstoff versorgt. Nervenzellen sterben ab. Je länger und je mehr Hirnareale von den lebensnotwendigen Nährstoffen abgeschnitten sind, desto schlimmer sind die Folgen.

Ambulanz
Patienten und Angehörige können sich bei der TMS-Ambulanz der Uniklinik Tübingen melden. Derzeit werden die Therapien nicht regulär von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Es wird jedoch für die Patienten ein Antrag auf Kostenübernahme bei der Kasse für einen individuellen Heilversuch gestellt. Die Teilnahme an Studien ist kostenlos. Telefon: 0 70 71 / 2 98 04 83; E-Mail: tms.ambulanz@med.uni-tuebingen.de; Internet: tms-nach-schlaganfall.de