Schutz bei der Mutter: ein Flüchtlingslager in Somalia Foto: picture alliance / Maurizio Gamb

Die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist um ein Prozent auf eine Rekordzahl von fast 80 Millionen gestiegen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk ist besorgt wegen neuer Krisenherde. Sorgenzone Nummer eins: Syrien.

Stuttgart - Die Antilleninsel Aruba gehört zum Königreich der Niederlande, ist aber ein autonomer Staat in der Karibik und ein trauriger Rekordhalter: Der Kleinstaat mit seinen 112 000 Einwohnern hat nicht nur weiße Sandstrände und kristallklares Wasser, er liegt 40 Seemeilen vor der Küste Venezuelas und ist der Staat mit der größten Flüchtlingszahl pro Kopf der Bevölkerung: Jeder sechste Mensch auf den Inseln ist ein Flüchtling. So steht es im am Donnerstag veröffentlichten Bericht „Global Trends“ des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), der einen negativen Rekord zu vermelden hat: Weltweit seien im vergangenen Jahr 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen, das seien mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung und im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um neun Millionen.

Auf der Karibikinsel wartet nicht das Paradies

„Das ist die größte Zahl der Flüchtlinge, die das UNHCR je in seiner 70-jährigen Geschichte registriert hat“, heißt es. Welche Schicksale sich aber hinter den Zahlen verbergen, lässt sich nur erahnen. Was Aruba anbelangt, so ist in Reiseportalen oft von Touristen gefragt worden, ob die Insel noch sicher sei, woraufhin meist die Antwort kam, man merke kaum einen Unterschied und holländische Luftwaffe fliege Küstenpatrouillen. Aber wer genauer hinsieht, kann die Tragödien erkennen. Laut einem Bericht der Zeitschrift „Foreign Policy“ ist ein neues Phänomen auf Aruba anzutreffen: junge Frauen aus Venezuela arbeiten dort als „Trago“-Girls, als Kellnerinnen in Bars, die noch über einen Hinterzimmer verfügen, wo dann nicht nur Alkohol serviert wird. Und ein UN-Bericht beschreibt die lebensgefährliche Bootsreise nach Aruba, die keineswegs im ersehnten Paradies endet, sondern von Menschenschmugglern begleitet wird und auf Aruba für die Flüchtlinge oft „mit Inhaftierung und Deportation“ ende.

Syrien führt die Statistik mit den meisten Vertriebenen

Venezuela, völlig zerrüttet nach dem Tod des Präsidenten Hugo Chavez 2013, ist einer der neuen Krisenherde, die vermutlich daran Schuld sind, das sich weltweit die Zahl der Menschen auf der Flucht in den vergangenen zehn Jahren glattweg verdoppelt hat. Allein der im Prinzip wegen seines Öls reiche Staat Venezuela hat 3,6 Millionen Menschen zur Flucht in die Nachbarländer getrieben. Mehr als zwei Drittel aller Flüchtlinge auf der Welt sind nur fünf Ländern zuzuordnen: 6,6 Millionen aus Syrien, wo 2011 im Rahmen des Arabischen Frühlings ein Protest gegen den Diktator Assad stattfand – und Repression sowie einen Bürgerkrieg entfesselte. Auf Platz zwei der Fluchtzahl liegt der relativ junge Konflikt in Venezuela (insgesamt 3,7 Millionen), auf Platz drei der nun seit einem halben Jahrhundert schwelende Konflikt in Afghanistan (2,7 Millionen). Auf dem vierten und fünften Platz sind wieder Krisen jüngeren Datums zu finden: 2,2 Millionen Menschen sind aus dem erst 2005 als Staat gegründeten Südsudan geflohen und 1,1 Millionen – muslimische Rohingya – aus dem von Friedensnobelpreisträgerin Auung San Suu Kyi regierten Myanmar. Die brutalen Übergriffe des Militärs von Myanmar sorgten übrigens dafür, dass im Nachbarstaat Bangladesch das größte Flüchtlingslager der Welt entstand: Kutupalong mit 640 000 Flüchtlingen.

Laut UNHCR-Bericht ist besonders besorgniserregend der Anstieg der Zahl der Binnenflüchtlinge in der Demokratischen Republik Kongo, der Sahelzone, im Jemen und in Syrien: „Der Krieg in Syrien dauert mittlerweile neun Jahre. Er hat 13,2 Millionen Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden oder Binnenvertriebenen gemacht – das ist ein Sechstel der weltweiten Gesamtzahl.“ Ein anderer Punkt löst ebenfalls Sorge beim UNHCR aus. Anders als in den 90er Jahren, als nach der Befriedung von Konflikten im Durchschnitt jedes Jahr 1,5 Millionen Flüchtlinge wieder nach Hause konnten, ist die Zahl der „Heimkehrer“ in den letzten zehn Jahren auf jährlich 390 000 gesunken. „Wir beobachten eine veränderte Realität. Vertreibung ist kein kurzfristiges und vorübergehendes Phänomen mehr“, sagt Filippo Grandi, der Hohe Kommissar der UN für Flüchtlinge. Von den Betroffenen aber könne nicht erwartet werden, „jahrelang in Ungewissheit zu leben, ohne die Chance auf eine Rückkehr und ohne Hoffnung auf eine Zukunft am Zufluchtsort. Wir brauchen eine grundlegend, neue und positive Haltung gegenüber allen, die fliehen.“

Deutschland ist als Gastgeberland auf Platz fünf

Und Deutschland und Europa? Da habe sich die Situation „kaum geändert“, heißt es. Deutschland sei das fünftgrößte Gastgeberland. Weltweit gesehen lebten die meisten Flüchtlinge aber in der Türkei mit 3,6 Millionen, gefolgt von Kolumbien (1,8 Millionen) und Pakistan und Uganda (jeweils 1,4 Millionen) Für Deutschland seien im vergangenen Jahr 1,14 Millionen Flüchtlinge gemeldet worden, das seien fast 83 000 mehr als im Vorjahr, aber zurückzuführen auf Anträge, die erst jetzt bearbeitet werden. „Die Zahl der Asylsuchenden sankt um fast genau 60 000 auf 309 262.“

Selbst Donald Trump zahlt brav für das UNHCR

Mit Verwunderung wird im UNHCR die EU-Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen gesehen. Dass EU-Staaten als „Koalition der Willigen“ nun 1600 junge Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen wollen, das sei doch „ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Chris Melzer vom UNHCR-Büro in Berlin. „37 000 Flüchtlinge sind auf den griechischen Inseln. Unsere reichen, gut strukturierten und funktionierenden Staaten sollten in der Lage sein, mehr aufzunehmen.“ Laut Melzer hat das UNHCR ein Budget von gut vier Milliarden US-Dollar – obwohl es das doppelte brauche – und die USA sind selbst unter Donald Trump stärkster Beitragszahler. Geld sei auch für das UNHCR wichtig: „Ich habe in einem Lager in Bangladesch gearbeitet. Da lernen Flüchtlingskinder Schreiben, Lesen und Rechnen. Aber mit neun oder zehn Jahren ist für die Schluss – dann ist kein Geld mehr da.“